Frauen in der Corona-Krise

Über psychosoziale Belastungen, Ressourcen und was es jetzt (und auch sonst) braucht. 

Autorinnen: Mag.a Dr.in Eva Lehner-Baumgartner, MBA & Dipl.-Psych.in Dr.in Susanne Schütt. Artikel erschien in SPECTRUM PSYCHIATRIE 4/2020.

Ohne Frauen wäre die Bewältigung der COVID-19-Pandemie nicht möglich. Frauen sind die Systemerhalterinnen in der Krise – überhaupt in unserer Gesellschaft – und leisten neben ihrem Beruf den Großteil der familiären Care-Arbeit.1

Neben Haushalt, Kinderbetreuung, Versorgung pflegebedürftiger und/oder älterer Angehöriger zählt seit neuestem  Homeschooling (auch in AkademikerInnenfamilien bzw. bei Familien mit zwei Einkommen, selbst wenn beide Elternteile im Homeoffice sind!) zu ihren Aufgaben; sie arbeiten in „systemrelevanten“ Berufen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich sowie im Lebensmittelhandel und in der Reinigungsbranche (mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten sind Frauen). Doch unsere Systemerhalterinnen und Care-Arbeiterinnen machen das alles meist schlecht(er) bezahlt oder gar unbezahlt, häufig in Teilzeit und in prekären abhängigen Beschäftigungs bzw. Lebensverhältnissen: willkommen im 21. Jahrhundert …

Verschärfung frauenspezifischer psychosozialer Belastungen

Spätestens seit der Corona-Krise, besonders in Lockdown-Zeiten, haben sich bereits bestehende frauenspezifische Probleme massiv verschärft.2 Die spezifischen psychosozialen Belastungen, die sich vor allem auf die psychische Gesundheit von Frauen negativ auswirken, lassen sich in drei Bereiche unterteilen:

  • erhöhte soziale Belastungen
  • erhöhte ökonomische Belastungen
  • Gewalterfahrungen

Frauen sind als unbezahlte Care-Arbeiterinnen, zumal sie auch häufiger Alleinerzieherinnen sind, Mehrfachbelastungen ausgesetzt (Beruf, Haushalt, Erziehung, Betreuung und Versorgung der Kinder bzw. Angehörigen, Homeschooling, reduzierte soziale Unterstützung v. a. durch Großeltern, geschlossene Betreuungs-/Bildungseinrichtungen). Die letzte Untersuchung zur Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit von Frauen und Männern in Österreich stammt aus dem Jahr 2008/2009: Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit wird von Frauen verrichtet! 

Es ist höchste Zeit für eine neue Zeitverwendungserhebung (für ein neues Sichtbarmachen unbezahlter Arbeit!); diese ist für 2021 in den meisten europäischen Ländern geplant, so nun auch in Österreich.3 Hinzu kommt, dass Frauen als schlecht(er) bezahlte Systemerhalterinnen in „systemrelevanten“ Berufen zusätzlich von höheren körperlichen und psychischen Belastungen betroffen sind – so wie aktuell in der Corona-Krise von höheren Infektionsrisiken. In Krisenzeiten steigen insgesamt das Arbeitsausmaß bzw. die Belastung bezahlter wie unbezahlter Arbeit unter anderem dadurch, dass frauendominierte Berufsfelder (wie der Lebensmittelhandel oder das Gesundheitswesen) als systemrelevant eingestuft und damit zu einer höheren Arbeitsbelastung bei gleichzeitiger familialer Care-Arbeit geführt haben. 

Umgekehrt wurden während der Lockdown-Phasen Wirtschaftsbereiche, in denen viele Frauen tätig sind, wie z. B. persönliche Dienstleistungen (Friseur, Kosmetik) oder jene Teile des Einzelhandels, die nicht als systemrelevant eingestuft wurden, geschlossen, und Frauen waren daher häufiger von Kurzarbeit, damit verbundenen Einkommenseinbußen sowie von (anhaltender oder neu auftretender) Arbeitslosigkeit betroffen. Der zweite Aspekt führt zu einer Verstärkung des Armutsrisikos von Frauen. 

Ebenso steigt das für Frauen bereits vor der Corona-Krise bestehende höhere Gewaltrisiko zusätzlich, und ihre Abhängigkeit verstärkt sich. Vor allem in Lockdown-Phasen sind Frauen (und Kinder!) häufiger häuslicher Gewalt ausgesetzt.4

Folgen frauenspezifischer psychosozialer Belastungen

Alle genannten psychosozialen Belastungen erhöhen das Risiko, sowohl psychisch als auch körperlich zu erkranken, bzw. das Risiko einer Verschlechterung vorbestehender Erkrankungen. Erste Studien weisen auf ein erhöhtes Auftreten von bzw. Risiko für Ängste, Depressionen, Erschöpfung und Stress sowie Schlafstörungen bei Frauen in der Gesamtbevölkerung hin. Hinweise für eine Zunahme von Suiziden bei Frauen (speziell bei jüngeren Frauen) finden sich bisher nur in einer Studie aus Japan.5

Besonders von den genannten psychosozialen Belastungen und deren Folgen (in der Corona-Krise und überhaupt) betroffene Frauen sind:6

  • jüngere Frauen mit kleinen Kindern, v. a. Alleinerzieherinnen (insb.Mehrfachbelastungen, Existenzbedrohung)
  • Frauen mit Migrationshintergrund bzw. Fluchterfahrung, auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (insb. verlorene Existenz, Abhängigkeit und besondere Vulnerabilität für Gewalterfahrung; erhöhtes Infektionsrisiko)
  • arbeits- und wohnungslose Frauen (insb. verlorene Existenz, Einsamkeit/soziale Isolation)
  • alleinstehende ältere Frauen in prekären Lebensverhältnissen bzw. in Wohn-/Pflegeeinrichtungen (insb. erhöhtes Risiko für Ansteckung/schwere Verläufe, Einsamkeit und soziale Isolation)
  • Frauen mit körperlichen und/oder psychischen Erkrankungen (insb. Verschlechterung der Erkrankungen, Gefährdung Behandlungskontinuität, Einsamkeit/soziale Isolation)
  • Frauen in Gesundheitsberufen (insb. erhöhte Arbeitsbelastung, Mehrfachbelastung; erhöhtes Infektionsrisiko)
  • auch junge Frauen bzw. Mädchen, Schülerinnen und Studentinnen (insb. Einsamkeit, Bedrohung/Verlust von Ausbildung) 

Arbeitsassoziierte psychische Belastungen, frauenspezifische Ressourcen und notwendige psychosoziale Maßnahmen Arbeitsassoziierte psychische Belastungen gehen häufig mit einem erhöhten Stresserleben einher und beeinflussen die psychische Gesundheit. Zur Entstehung psychischer und psychosozialer Fehlbelastungen am Arbeitsplatz haben sich drei Modelle etabliert: 1) das Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek und Theorell (1990), das als wesentlichen Belastungsfaktor hohe Arbeitsanforderungen bei geringen Entscheidungs spielräumen nennt; 2) das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen von Siegrist (1996, 2002), welches das subjektiv empfundene Ungleichgewicht zwischen Anforderungen/Leistungen und der wahrgenommenen Gratifikation (Entlohnung, Ansehen, Karrierechancen, Arbeitsplatzsicherheit) als ursächlich sieht; und 3) das Modell der organisatorischen Gerechtigkeit (Tyler, 2000), das Verteilungsgerechtigkeit, Prozessgerechtigkeit und Beziehungsgerechtigkeit als zentrale Dimensionen nennt. Während im letztgenannten Modell die individuellen Merkmale nur als subjektive Wahrnehmung verschiedener Gerechtigkeitsdimensionen erfasst werden, finden in den beiden erstgenannten Modellen die individuellen Ressourcen und Anforderungen außerhalb des beruflichen Kontextes Berücksichtigung.7

Ressourcen können als „gesunderhaltende Kräfte/Quellen“ beschrieben werden (Abb. 1), die im Modell der Salutogenese von Antonovsky (1979, 1987) als wesentlich für die Bewältigung von Belastungen/Herausforderungen (Coping) gesehen werden.8

Abb. 1: Beispiele für psychische Ressourcen

Nach: Antonovsky (1997)

Interne wie externen Ressourcen: Persönliche oder interne Ressourcen sind Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Haltungen und Neigungen, aber auch Erlebnisse und Erinnerungen. Humor, Optimismus, Kreativität, Lösungsorientierung, Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit und Akzeptanz sind im Umgang mit belastenden und herausfordernden Situationen hilfreich. Die Fähigkeit, den Blick auf jene Bereiche des Lebens zu lenken, die meist gut bewältigt wurden, und/oder das Bewusstmachen erfolgreich bewältigter Krisen zeichnen resiliente Menschen (Frauen wie Männer!) aus und fördern die Entwicklung neuer Ressourcen. Die Verfügbarkeit und Nützlichkeit persönlicher Ressourcen ist individuum- und situationsspezifisch. Zu den externen Ressourcen zählen soziale, materielle und infrastrukturelle Faktoren. 

Wenn den einströmenden Belastungen keine ausreichend vorhandenen internen wie externen Ressourcen gegenüberstehen, entsteht psychischer Distress (Abb. 2a, 2b).9

a
b

Abb. 2: Ungleichgewicht zwischen Belastungen und Ressourcen (a) und Wiederherstellung des Gleichgewichts (b)

Frauen als familiäre Care-Arbeiterinnen und Systemerhalterinnen – in der Corona-Krise und überhaupt in unserer Gesellschaft – brauchen mehr als einmalige Corona-Prämien und “Blumen“. So fordert z. B. aktuell eine Initiative jüngerer SPD-Frauen in Deutschland unter dem Hashtag #stattblumen10 u. a. die gerechte Verteilung von Care-Arbeit und eine bessere Bezahlung in „systemrelevanten“ Berufen.

Damit Frauen weiterhin die zentrale Ressource in der Krise und darüber hinaus in unserer Gesellschaft sein können, brauchen sie selbst auch Ressourcen. 

Und „Ressourcen haben oder nicht haben“ hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine viel stärkere soziale Komponente. Deshalb geht es nicht nur um individuell wirksame psychosoziale Maßnahmen, sondern auch um eine grundsätzliche Änderung unseres Systems, um eine grundsätzliche Lösung frauenspezifischer Probleme, und dies über die Corona-Krise hinaus.

„Eine Frau, die ihren Job verloren hat und ihre Familie nicht ernähren kann, braucht keine Meditations-App.“ Insgesamt geht es darum, systemische, sozial bedingte Vulnerabilitäten bzw. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nachhaltig zu verändern.11

Wichtige psychosoziale Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen während und nach der Corona-Krise (bzw. überhaupt!):12

  • Sichtbarmachen und Ändern der Mehrfachbelastung und Verteilung von unbezahlter Care-Arbeit innerhalb von Familie und Gesellschaft; Aufwertung und Verbesserung der Bedingungen von (bezahlter wie unbezahlter) Pflege-/Betreuungsarbeit
  • verstärkte zielgruppenspezifische Bewerbung und Finanzierung von psychosozialen Einrichtungen bzw. Hotlines, Frauenhäusern, Frauennotrufen etc.; auch nachgehende Betreuung (durchaus telefonisch!); verbesserte Nutzung von „Frauenorten“ (Kindergärten, Schulen, Apotheken, Supermärkte, Arztpraxen, Krankenhäuser) und Sensibilisierung/Schulung von MultiplikatorInnen, die nahe am Lebensalltag sind und in ihrer beruflichen Tätigkeit viel im Austausch mit Frauen stehen; Online-/Chatangebote (insb. bei Gewalt/beengten Wohnverhältnissen ohne Privatsphäre); bei häuslicher Gewalt auch z. B. Direkthilfe durch Verständigung der Polizei via Codewort in Apotheken, Supermärkten (aktuell in Frankreich, Spanien)
  • Aufbau psychischer Hilfen in allen Betreuungsbereichen, da es hier sowohl um die Bewältigung der Ängste der Betreuenden (zumeist Frauen) als auch der Betreuten (Kinder, Senioren, Erkrankte etc.) geht
  • Durchführung nicht nur psychischer, sondern auch sozialer Maßnahmen – tatsächliche Hilfen im Alltag und keine „Therapeutisierung“ von sozialen Problemen – in Form von: realer Arbeitslastreduktion; finanzieller Soforthilfe (insb. bei Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit; AlleinverdienerInnen/-erzieherInnen); auch Unterstützung von Frauen in Gesundheitsberufen aus dem Ausland; Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie zur Reduktion der Mehrfachbelastung von Eltern; Unterstützung im Umgang mit Kindern sowie im Umgang mit Stress und Konflikten; Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder (insb. bei Kindergärten-/Schulschließungen) wie für ältere Pflegebedürftige; Ermöglichen von Notbetreuung
  • paritätische Besetzung aller politischer Entscheidungsrunden, Beratungsgremien und  ressorts sowie partizipative gesellschaftspolitische Formate und Think Tanks, um die unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedener Lebensrealitäten zu berücksichtigen

Fazit

Zusammengefasst: Frauen brauchen keine „Blumen“. Frauen brauchen mehr bzw. gleiche  Rechte und Bedingungen – in allen Bereichen des Lebens (auch im Sinne eines ganzheitlichen sozialpsychiatrischen Zugangs, der die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt):13 in der psychischen und körperlichen Gesundheitsvorsorge/-versorgung, beim Wohnen, beim Arbeiten, in der Ausbildung, beim Freizeitmachen und auch was Angehörige, professionelle HelferInnen, ethische, rechtliche, finanzielle sowie kulturelle Aspekte anbelangt … Und das für alle, immer und überall. 

Quellen

1 King T. et al.: Reordering gender systems: can COVID-19 lead to improved
gender equality and health? The Lancet 2020; 396: 80–1; Yildirim T.M.,
Eslen-Ziya H.: The differential impact of COVID-19 on the work conditions
of women and men academics during the lockdown. Gender, Work &
Organization 2020; Repnik U.: Die Corona-Krise als Frauengesundheits-
krise? Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele der Stadt Wien,
2020; Mader K. et al.: Gender specific effects of Covid-19. WU Vienna,
2020
2 United Nations: Policy Brief: The Impact of COVID-19 on Women. 2020,
New York; Wenham C. et al.: COVID-19: the gendered impacts of the
outbreak. The Lancet 2020; 395: 846–8; Turabian J.L.: Sex and Gender
Bio-psychosocial Differences in Coronavirus Disease 2019: Men have
more Biological Problems, but Women Suffer more Long-Term Serious
Psychosocial Consequences and with more Implications for Population.
Journal of Women’s Health Care 2020; 9: 2167; Czymara C.S. et al.:
Cause for concerns: gender inequality in experiencing the COVID-19
lockdown in Germany. European Societies 2020; 1–14
3 Statistik Austria: Zeitverwendung 2008/09: Ein Überblick über
geschlechtsspezifische Unterschiede. Endbericht der Bundesanstalt
Statistik Österreich an die Bundesministerin für Frauen und Öffentlichen
Dienst (31. 7. 2009); Disslbacher F., Schnetzer M.: Höchste Zeit für eine
Zeitverwendungserhebung! A&Wblog.at, 2019 (https://awblog.at/
zeit-fuer-zeitverwendungserhebung); APA: Frauenbudget steigt,
Zeitverwendungsstudie kommt. Der Standard, 14. 10. 2020
4 Steinert J., Ebert C.: Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland
während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen. 2020, TU
München; Usher K. et al.: Family violence and COVID-19: Increased
vulnerability and reduced options for support. International Journal of
Mental Health Nursing 2020; WHO: COVID-19 and violence against
women. 2020, Genf
5 Mazza C. et al.: A Nationwide Survey of Psychological Distress among
Italian People during the COVID-19 Pandemic. International Journal of
Environmental Research and Public Health 2020; 17: 3165; Pappa S. et
al.: Prevalence of Depression, Anxiety, and Insomnia among Healthcare
Workers during the COVID-19 Pandemic. Brain, Behavior, and Immunity
2020; 88: 901–7; Vindegaard N. et al.: COVID-19 pandemic and mental
health consequences. Brain, Behavior, and Immunity 2020; Liu N. et al.:
Prevalence and predictors of PTSD during COVID-19 outbreak in China
hardest-hit areas: Gender differences matter. Psychiatry research 2020;
112921; Ausín B. et al.: Gender-related differences in the psychological
impact of confinement as a consequence of COVID-19 in Spain. Journal of
Gender Studies 2020; 1–10; Ueda M. et al.: Suicide and mental health
during the COVID-19 pandemic in Japan. 2020 (preprint from medRxiv)
6 Zandonella M. et al.: Zur psycho-sozialen Situation der WienerInnen
während der Corona-Pandemie. SORA-Institut 2020, Wien; Xiong J. et al.:
Impact of COVID-19 pandemic on mental health in the general population.
Journal of Affective Disorders 2020; Braun M. et al.: SARS CoV-2: Mental
Health in Österreich (ausgewählte Ergebnisse zur vierten
Befragungswelle). 2020, MUW
7 Junne F. et al.: Psychische Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt: Modelle
und Prävention. Psychother Psych Med 2017; 67: 161–73
8 Antonovsky A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. 1997,
Tübingen: dtv
9 Gilbert-Ouimet M. et al.: Psychosocial work stressors, high family
responsibilities, and psychological distress among women: A 5-year
prospective study. Am J Ind Med 2020; 63: 170–9
10 siehe: www.gleichberechtigung-statt-blumen.de
11 Burgess R.: Covid-19 mental-health responses neglect social realities Nature: World View 2020 (4. 5. 2020)
12 z. B. United Nations, 2020; WHO, 2020; Steinert & Ebert, 2020;
King et al., 2020; Repnik, 2020
13 Psota G.: Zurück in die Zukunft der (Sozial-)Psychiatrie. Spectrum
Psychiatrie 2017; 2: 40–3

Meine Erfahrungen mit Borderline und Depressionen

Mein Name ist Michaela Fink und ich leide bereits mehr als mein halbes Leben an einigen psychischen Erkrankungen.

Die wohl augenscheinlichste Diagnose ist meine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie ist gekennzeichnet durch ein regelmäßiges auf und ab an Gefühlen und einem starken „Schwarz-Weiß“ – Bild. Das heißt ich nehme die meisten Begegnungen, Personen etc. entweder als gut, schön oder als böse, bedrohlich wahr. Eine Graustufung existiert nur selten.

Dazu kommt provokatives und manipulatives Verhalten hinzu. Aber ich bin keine „typische Borderlinerin“ – sofern man von so etwas überhaupt sprechen kann.

Ich schneide und ritze mich kaum, dafür schlage ich öfters meinen Kopf gegen die Wand – aber mir geht es eher mehr darum zu provozieren als mich zu verletzen.

Meine Depressionen können sehr schwer und herausfordernd sein. Für Außenstehende ist es schwierig nachzuvollziehen, wie man so überhaupt keinen Antrieb haben kann.

Ich kam manchmal wochenlang nicht aus meinem Zimmer, schlief viel und war völlig kraftlos. Nicht mal das Haarewaschen oder Zähneputzen schaffte ich in solchen Momenten und jede Kleinigkeit brachte mich zum Heulen.

Schon früh kam ich in Kontakt mit der Psychiatrie. Mir wurden Medikamente verschrieben, von denen ich mit meinen damals 16 Jahren überhaupt keine Ahnung hatte. Ich schluckte sie einfach und bemerkte, dass ich immer mehr davon brauchte, um schlafen zu können.

Schnell geriet ich in eine Abhängigkeit von Beruhigungsmittel, mit der ich bis heute zu kämpfen habe.

Die ganze Symptomatik dürfte auf meine Kindheit zurückzuführen sein, da ich in dieser Zeit kaum „Liebe“ erhalten hatte.  -geschweige denn Umarmungen und sonstige Berührungen.

Ich bin im Burgenland geboren und zog nach meiner (ausgezeichneten) Matura nach Graz um meinen Traum vom Medizinstudium Wirklichkeit werden zu lassen. Ich ging schon immer offen mit meiner Erkrankung um und mein Ziel war und ist es eines Tages Menschen, die Ähnliches durchmachen helfen zu können. Dabei bemühe ich mich sehr dieses Thema zu enttabuisieren. Einen Teil trage ich dazu bei in dem ich einen Blog auf Facebook schreibe (Michaela Fink – Der Blog über mein Leben mit psychischer Erkrankung) – ich freue mich natürlich über jeden Besuch meiner Seite. https://www.facebook.com/MichaelaFinkBlog

Mein Bruder verstarb leider mit 17 Jahren und mir kamen Zweifel, ob das Medizinstudium wirklich das Richtige für mich ist. Ich habe dann eine Zeitlang wieder zu Hause gewohnt und bin arbeiten gegangen. Ich merkte bald, dass das nicht der Sinn meines Lebens sein kann und ich nicht im Handel arbeiten möchte. Daneben standen zahlreiche Krankenstände und so wurde ich gekündigt.

2017 kam dann ein entscheidender Wendepunkt, wo ich mich entschied wieder ein Studium aufzunehmen. Ich übersiedelte nach Wien und fühle mich erstmals wie zu Hause. Ich scheine angekommen zu sein.

Ich studiere jetzt Psychologie und möchte dann auch mein Medizinstudium weiterbetreiben.

Meine Intelligenz und insbesondere Selbstreflektiertheit sind meine großen „Ressourcen“, die ich im „Kampf“ gegen diese Erkrankungen besitze.

Natürlich kam es auch in Wien zu weiteren Psychiatrieaufenthalten. Aber ich scheine die richtigen Menschen gefunden zu haben, die mir wirklich helfen können. Eine größere Krise gab es schon länger nicht. Ich lebe mit einer konstanten Medikamenteneinstellung, die nun endlich für mich passt.

Ich konnte mir in einigen Psychotherapiesitzungen klar werden, welche „Trigger“ mich zu krankhaften Verhalten „veranlassen“ und dass so viele Ursachen in meiner Kindheit zu finden sind.

Es wird eine große Aufgabe sein, diese Erlebnisse aufzuarbeiten.

Michaela Fink (34)

Nur noch funktionieren… Familien-Management während der Pandemie

Mein Name ist Oliver, ich bin 43 Jahre alt und arbeite als Lehrer in einer NMS. Dieses Jahr ist für mich und meine Familie alles andere als leicht. Durch die Covid-19 Pandemie und den Lockdown ist unser Leben um einiges stressiger und sorgenerfüllter geworden. 

Mein Vater ist 78 Jahre alt und leidet an Demenz. Durch den Ausbruch der Pandemie haben wie die Pflegeunterstützung verloren und wir kümmern uns jetzt selbst um ihn. 

Papa kann sich zwar grundsätzlich selbst versorgen, aber ich muss jeden Tag zu ihm fahren und ihn mit Hausarbeit, Einkauf, und Organisation der Medikamente unterstützen. Die Autofahrt hin und zurück dauert jeweils eine halbe Stunde. Wir haben ihm angeboten, bei uns einzuziehen, zumindest für die Dauer der Pandemie, aber Papa möchte das nicht. Aufgrund seiner Demenz ist er darauf angewiesen, dass er sich dort, wo er wohnt, auch gut auskennt. Er lebt seit seiner Kindheit in diesem Haus und möchte es unter keinen Umständen verlassen. Das verstehe und respektiere ich auch, trotzdem ist es wirklich schwer zu managen. 

Zwischen Job, meiner Familie und der Pflege meines Vaters bleibt kaum mehr Zeit zum Durchatmen. Auch meine Frau arbeitet Vollzeit im Home-Office und versucht dabei noch unsere Kinder beim Lernen zu unterstützen. Wir haben beide unsere Kapazitäten erreicht und funktionieren nur noch – von Weihnachtsstimmung keine Spur. 

Hinzu kommt die andauernde Sorge, Papa mit Covid anzustecken. Ich weiß nicht, ob er die Krankheit überstehen würde. Meine Familie und ich sind deshalb extrem vorsichtig, um ihn nicht anzustecken. Papa fragt manchmal, warum ihn seine Enkerl oder die Nachbarn nicht mehr besuchen kommen. Mehr als ein paar freundliche Worte über den Zaun sind zur Zeit einfach nicht drin. Ich merke, dass er menschlichen Kontakt vermisst und wirklich traurig darüber ist. Das ist für uns alle belastend.

Ich habe jetzt Hilfsangebote recherchiert, und wenn alles gut läuft, bekommen wir wieder eine Pflegerin zur Verfügung gestellt. Das würde unsere Situation schon mal um einiges erleichtern. Und ab und zu, wenn alles zu viel wird, rufe ich einen Freund an und erzähle ihm, was grade so los ist. Er hört mir dann zu und ich merke, dass es gut tut, einfach alles rauszulassen. 

Ich weiß, dass sich gerade viele Familien in einer ähnlichen Situation befinden. Ich kann nur empfehlen, sich trotz der erschwerten Bedingungen gegenseitig so gut es geht zu unterstützen und nicht zu zögern Hilfsangebote anzunehmen. 

Tränen zu Weihnachten… davor hab ich Angst.

Weihnachten war schon immer schwierig für uns. Oder besser gesagt: Die Zeit vor Weihnachten war schon immer schwer – zumindest seit Klara 4 Jahre alt war und ich nur mehr allein für sie da sein konnte.

Man ist einfach sehr unter Druck, weil das Geld knapp ist, weil der Vergleich mit anderen Familien einfach immer da ist und man Tag für Tag versucht, all das auszugleichen. Ganz nebenbei soll man dann auch noch einen Job machen, der zum Jahresende hin auch immer extrem stressig wird. Die Weihnachtszeit war deshalb immer ein Kraftakt, bis wir dann endlich zu zweit am 24. unter dem Baum sitzen konnten und ich endlich mal Zeit hatte, kurz Luft zu holen.

Ich hab früher immer versucht, in all dem Stress schöne Momente für mich zu finden. Wir sind einmal die Woche durch die Stadt spaziert, um einfach abzuschalten, die Weihnachtsbeleuchtung zu genießen und uns Geschichten zu den Motiven auszudenken. Das waren unsere Highlights – für Klara und für mich. 

Doch heuer … heuer ist einfach alles anders. Es ist noch stressiger, noch mehr Druck, noch weniger Zeit zum Luft holen. Die Geldsorgen sind größer und unsere Spaziergänge fehlen uns Tag für Tag. 

Klara ist im Herbst in die Schule gekommen – das allein war schon ein finanzieller Kraftakt – aber die psychische Belastung durch Covid-19 hat das alles noch einmal um vieles schwerer gemacht. Die Lehrkräfte geben sich wirklich größte Mühe, aber sie sind auch am Limit. Es ist für niemanden leicht, das weiß ich. Aber ich will, dass Menschen wissen, wie sehr wir hier struggeln, wie schwer es gerade ist. 

Das ist Klaras erstes Schuljahr – mit Lockdown, mit wenig bis keinem Kontakt zu ihren neuen KlassenkollegInnen und dann kommt jetzt auch noch eine Vorweihnachtszeit, die von Ungewissheit und Sorgen geprägt ist. Ich versuche stark zu sein und all die Angst um meinem Job, die Existenzängste wegen der Kurzarbeit vor ihr zu verstecken, aber ich weiß das gelingt nicht immer. Sie bekommt all das natürlich mit und das macht mich noch trauriger. Es gab in den letzten Wochen Zeiten, an denen ich fast jeden Tag weinend zu Bett gegangen bin, weil ich nicht mehr weiß was ich machen soll. Oft zittern meine Hände und mein Herz rast. 

Ich habe Angst, dass es so weitergeht oder vielleicht noch schlimmer wird. 
Ich habe Angst, dass meine Mutter krank wird. 
Ich habe Angst, dass Klaras Zukunft gefährdet ist. 
Und so kleinlich das klingen mag: Ich hab‘ Angst, dass es zu Weihnachten Tränen gibt. 

Eine Freundin hat geraten, dass ich mir Hilfe hole und sie mich dabei auch unterstützen kann. Ich bin gerade dabei Hilfsangebote zu recherchieren. Die Sorgenhotline der Stadt Wien hat mir auch schon zweimal sehr gut weitergeholfen, weil es einfach gut tat mal darüber zu sprechen – das Gefühl zu haben, dass ich nicht allein bin und dass jemand zuhört. Deswegen schreibe ich auch diesen Brief. Ich bleibe dran. 

An all diejenigen, die gerade in ähnlichen Situationen sind: Ihr seid nicht allein, es gibt Menschen, die genau gleich fühlen, bangen und kämpfen wie ihr. Und es gibt Menschen, die helfen können. Zögert nicht um Hilfe zu fragen: egal ob es nur ein Gespräch, ein Ratschlag, eine Unterstützung oder professionelle Hilfe ist – um Hilfe zu fragen, ist keine Schande. Bitte tut es. 

Toleranz und psychische Gesundheit… gehen Hand in Hand!

“Ich habe mich immer gefragt: Warum beschäftigt es andere so sehr, in welcher Identität ich mich wohl fühle? Und was rechtfertigt es, mir mit so viel Hass zu begegnen?”

Alex ist als Alexander zur Welt gekommen, hat aber schon früh gemerkt, dass sie sich in einem männlichen Körper nicht wohlfühlt. “Ich habe meine Schwester immer beneidet, dass sie lange Haare haben und Kleider tragen durfte.” 

Schon im Teenager-Alter war sich Alex sicher, ein Mädchen zu sein. Später haben auch ihre Eltern einer Hormon-Therapie zugestimmt. Auf diesem Weg wurde sie auch therapeutisch und medizinisch begleitet. Für ihre direkte Familie war Alex’ Entwicklung kein Problem. “Meine Mutter hat mir mal gesagt, dass es für sie gar keine Überraschung war und sie es immer schon irgendwie gewusst hat.” Doch im erweiterten Verwandtenkreis, in der Nachbarschaft und in der Schule hatte Alex mit teilweise schweren Anfeindungen zu kämpfen. 

“Es war ein täglicher Albtraum, in die Schule gehen zu müssen. Ich wurde schlimm gemobbt und ausgegrenzt. Meine Mutter hat mehrmals mit dem Klassenvorstand gesprochen. Die LehrerInnen haben dann zwar vermehrt darauf geachtet, aber es hat fast keinen Unterschied gemacht. Das war eine wirklich schwierige Zeit für mich.”

Nach einem Schulwechsel hat sich die Situation etwas gebessert, doch Alex konnte es nicht erwarten aus ihrer alten Umgebung auszubrechen und ist nach der Matura nach Wien gezogen. 

Während dem Studium hat Alex gemerkt, dass es ihr trotzdem nicht gut ging. “Ich habe mich wirklich wohl gefühlt in der WG und mit meinem Studium. Aber irgendwie konnte ich trotzdem keine wirkliche Motivation aufbringen. Ich war andauernd nervös oder traurig und hatte Konzentrationsschwierigkeiten. Dann kamen nachts die Panikattacken dazu. Meine Freunde haben mir dann geraten, mich ärztlich beraten zu lassen.”

Alex wurde mit Posttraumatischer Belastungsstörung diagnostiziert. Sie befindet sich in Gesprächstherapie und macht gute Fortschritte. 

Die Therapie hat ihr geholfen, mit ihrer Depression und ihren Konzentrationsproblemen besser umgehen zu können. “Meine Therapeutin hat mich dabei unterstützt, das Trauma als Teil meiner Geschichte anzuerkennen und mit Mut in meinen neuen Lebensabschnitt zu starten.”

“So viele Mitglieder der LGBTIQ+ Community werden Opfer von Anfeindungen und Ausgrenzung – durch ihr Umfeld oder manchmal sogar durch ihre Familie. Das kann man nicht so leicht wegstecken, so eine Erfahrung hinterlässt Spuren. Daher finde ich es wichtig, mit anderen darüber in den Dialog zu treten und so ein Stück weit zur Normalisierung und Akzeptanz beizutragen.”

Wollt ihr auch eure Geschichte mit uns teilen? Dann schreibt uns eine Nachricht an darueberredenwir@psd-wien.at 

Der erste Brief an die Gesellschaft hat uns erreicht

Liebe Community, 

dieses Jahr ist wahrscheinlich nicht so gelaufen, wie viele von uns sich das vorgestellt haben. Ganz sicher war 2020 nicht so, wie ich es erwartet habe. Über unseren Köpfen hängt seit dem Frühjahr eine graue Wolke namens „Covid-19“. Sie schränkt uns ein, macht uns Angst und zwingt uns zu Schritten, die ich noch vor einem Jahr gar nicht für möglich gehalten hätte. Viele von haben ganz eigene Wege gefunden, mit all dem umzugehen … in meinem Fall ist es ein früher Start in den Weihnachtszauber in meinen eigenen vier Wänden. Mit warmem Kerzenlicht, schmalzigen Liedern und süßen Düften. Das ist gerade jetzt mein Weg, diese Situation ein kleines bisschen besser zu machen.

Verfrühte Weihnachten sind aber nur oberflächliche Bandagen für die Unsicherheit, die viele von uns gerade in den letzten Tagen und Wochen spüren – und ganz sicherlich nicht jedermanns Geschmack 😉 Was es eigentlich braucht, um besser durch diese schwere Zeit zu kommen, ist schwieriger zu erreichen … oder vielleicht doch nicht? 

Die beste (oder auch die mindeste) Unterstützung, die wir sowohl uns selbst, als auch unserem Umfeld und der ganzen Gesellschaft ohne viel Aufwand bieten können, sind offene Ohren, Verständnis und gelebte Akzeptanz:

Denn es ist ja nichts Neues, dass wir Menschen gerade in ungewohnten Situationen zum Gruppendenken tendieren. Wir kategorisieren, teilen ein, stecken in Schubladen, weil wir uns so leichter tun, unser Umfeld einzuschätzen. Genau in solchen Situationen entsteht aber oft ein „Wir“ und „die Anderen“ – eine Denkweise, die zu negativen Einstellungen und Vorurteilen führt. Und genau daran möchten wir arbeiten. In unserer vernetzten, schnelllebigen Welt haben wir aber die Chance, einen Unterschied zu machen. Was ich mir deshalb Wünsche?

  • Offene und konstruktive Dialoge um angebliche Tabuthemen.
  • Ein Aufbrechen von Stereotypen und einschränkendem Gruppendenken.
  • Gelebte Akzeptanz in jeder Lebenswelt – ganz besonders auch für Communities wie LGBTIQ+, People of Color und andere.

Jede und jeder von uns ist ein Mensch mit einer eigenen Geschichte, eigenen Lastern, Problem, Wünschen, Träumen, guten und auch schlechten Tagen. Jede Nettigkeit, jede kleine Hilfestellung, jedes Zeichen der Zivilcourage und jedes offene Ohr ist in unserer Welt ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Und es gibt uns gerade in Zeiten wie diesen den Mut, unseren Alltag und unser Leben ein Stück weiter besser leben zu können 🙂

Ich glaube fest daran, dass wir das gemeinsam schaffen!

Tweet für Tweet in die richtige Richtung

Das Thema psychische Gesundheit bei Jugendlichen

Die letzten Monate waren für uns alle schwer. Egal ob in Familie, Beruf, (Aus)bildung oder Freizeit – überall gab es massive Unsicherheiten. Das Jahr 2020 haben wir bisher wahrscheinlich ganz anders verbracht als ursprünglich geplant. Diese besondere Situation hat aber auch dazu geführt, dass unsere psychische Gesundheit, der Umgang mit Angst und die Bewältigung von Stress zu einem immer größeren Thema wird. Und wir alle gehen anders damit um – so auch junge Menschen auf der ganzen Welt. 

Teenager sein während einer Krise

In Österreich hat der „normale“ Schulunterricht trotz anhaltender Corona-Krise wieder begonnen. Das Schuljahr ist von gesundheitlichen und organisatorischen Schwierigkeiten geprägt. Vielen Kindern und Jugendlichen fällt es da schwer, sich voll auf den Unterricht zu konzentrieren. Konzentrationsstörungen und Leistungsdruck machen sich breit. 

Auch Freizeitaktivitäten, die sonst helfen würden, den Kopf frei zu kriegen, sind nur eingeschränkt möglich. Und auch, wenn es banal klingen mag, unsere MaturantInnen hatten in diesem Jahr keine Matura-Reise, keinen Maturaball und keine fancy Abschlussfeier. Auch das kann etwas mit Menschen machen – nämlich dann, wenn solch große Ereignisse nicht so gefeiert werden können, wie das bisher immer war.

Vor allem in einem Alter, in dem es wesentlich zur Entwicklung beiträgt, wenn wir soziale Erfahrungen machen, FreudInnen treffen und Hobbies nachgehen, stellen Ausgangssperren, Vereinsschließungen und Versammlungsverbote ein großes Problem dar. 

Daher ist es leider nicht verwunderlich, dass gerade unter Jugendlichen die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt. Aber im Unterschied zu Erwachsenen ist die eigene psychische Gesundheit für viele junge Menschen kein absolutes Tabu-Thema mehr. Und das ist gut so!

Soziale Medien als Sprachrohr

Junge Menschen nutzen als Digital Natives Soziale Medien viel aktiver als jede andere Generation und berichten auf diesen Plattformen offener und ehrlicher darüber, wie es ihnen in Alltagssituationen geht. 

Vorbildfunktion nehmen dabei ganz besonders InfluencerInnen ein. Sie sind selbst Jugendliche oder junge Erwachsene und teilen nicht nur die positiven Seiten ihres Lebens mit ihren Followern – Themen wie Familienprobleme, Depressionen oder Angststörungen werden auf ihren Kanälen immer offener angesprochen. 

Auf Twitter werden Hashtags wie #MentalHealth; #MentalHealthMonth und #LetsTalk benutzt, um sich mit Menschen auf der ganzen Welt über psychische Gesundheit und die eigenen Erfahrungen auszutauschen. Besonders Jugendliche können sich mit dieser niederschwelligen Art der Gesprächsführung gut identifizieren.

Auch auf Instagram sind Initiativen und Einzelpersonen aktiv, um das Tabu rund um psychische Erkrankungen zu brechen. Einige von ihnen sind auch Teil der #darüberredenwir Online-Community. Auch hier wird mit Bildern und mutigen Texten über den Alltag mit psychischen Erkrankungen gesprochen. Nicht zuletzt zeigen die Kommentare, wie wichtig es für viele ist, sich nicht alleine zu fühlen. 

Auf der relativ neuen Plattform Tik Tok hat sich in kurzer Zeit ein ganzes Subgenre zu psychischer Gesundheit gebildet. Jugendliche geben dort Einblicke, wie es ihnen zum Beispiel während einer depressiven Phase geht oder erzählen wie sie mit psychischen Problemen in der Familie oder im Freundeskreis umgehen. PsychotherapeutInnen, Mental Health TrainerInnen und andere ExpertInnen haben sich diesem Diskurs auf Tik Tok angeschlossen und geben in Form von kurzen, eingängigen und informellen Videos Ratschläge und Tipps im Umgang mit psychischen Problemen. 

Natürlich ersetzen all diese Kanäle und Plattformen keine professionelle Beratung und Behandlung, aber darüber zu reden ist immer der erste, ganz wichtige Schritt. 

Ein offener Diskurs trägt merklich dazu bei, psychische Erkrankungen als etwas „Normales“ anzusehen, das alle von uns betrifft. Psychische Erkrankungen werden so immer mehr aus der Tabu-Zone herausgeholt und es fällt uns viel leichter, weiter darüber zu sprechen und uns wenn nötig auch professionelle Hilfe zu holen!

Wie oarg ist es eigentlich, dass unsere Sprache immer noch psychische Erkrankungen stigmatisiert?

Wie wir Sprache benutzen, definiert uns selbst und unser Verhalten. Sprache spiegelt die Gesellschaft wieder, durch sie drücken wir soziale Vorstellungen aus und schaffen Normen. So wie sich unsere Gesellschaft verändert, verändert sich auch unser Sprachgebrauch und umgekehrt. Sprache kann inklusiv sein oder ausgrenzend wirken – sie schafft Möglichkeiten von Teilhabe und Sichtbarkeit, sie kann jedoch auch stigmatisieren und diskriminieren.

Das erleben wir auch bei Wörtern, die psychische Erkrankungen oder Erkrankte abwerten und so zu einem anhaltenden Stigma beitragen. Wörter wie… 

  • wahnsinnig
  • gestört
  • HysterikerIn
  • Psycho
  • Irrenanstalt
  • Klapsmühle oder Klapse
  • schwachsinnig
  • zurückgeblieben
  • abartig

sind tief in unserer Umgangssprache verwurzelt und ihre Herkunft wird uns oft erst auf den zweiten, hinterfragenden Blick klar.

Als Argument gegen eine sogenannte „politisch korrekte“ Sprache wird häufig angeführt, dass sie umständlich sei oder diskriminierende Begriffe ja gar nicht so gemeint sind. Aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen Sprache auf uns, auf unser Gegenüber und auf unsere Gesellschaft hat, weil Sprache nachhaltig verletzen kann. Wir haben ErfahrungsexpertInnen direkt gefragt, was diskriminierende Sprache für sie bedeutet: 

“Es tut weh, wenn Erkrankungen, an denen man selbst leidet, als Attribute verwendet werden, die etwas Negatives, nicht „Normales“ oder Übertriebenes ausdrücken sollen “, sagt Manuel H., der seit Jahren mit einer Persönlichkeitsstörung lebt. „Meine Familie und Freude wissen über meine psychische Erkrankung Bescheid. In alltäglichen Konversationen kommt es schon mal vor, dass sie in meinem Beisein Sätze verwenden wie ‚Die waren so abartig drauf…‘ oder ‚Sie hat sich aufgeführt wie eine Irre…‘, etc. Mir ist bewusst, dass sie diese Worte nicht böswillig verwenden oder mich und meine Erkrankung damit nicht denunzieren wollen – ich weiß, dass ich auf eine volle Unterstützung ihrerseits vertrauen kann. Trotzdem fällt es mir schwer, es zu ignorieren. Es fühlt sich an, als würden sie unterbewusst schlecht von mir denken.“

Sprache beeinflusst unser Verhalten und wie wir Sachverhalte einschätzen. Und zwar nicht nur in uns selbst, sondern auch in unseren GesprächspartnerInnen – besonders wenn wenig oder lückenhaftes Wissen über ein Thema vorhanden ist.

Denn unser Gehirn versucht Unbekanntes zu erforschen, indem es sämtliche aufgeschnappte Information zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen versucht.

Je öfter wir also Phrasen hören, die psychische Erkrankungen in einem negativen Kontext darstellen oder abfällige Begriffe diesbezüglich verwenden, desto eher verhärtet sich die Stigmatisierung. Wenn sich auf diese Weise ein negatives Bild von psychischen Erkrankungen verfestigt hat, dann fällt es uns aber auch selbst schwerer, darüber zu reden, uns zu informieren oder uns Hilfe zu holen, wenn wir selbst oder Menschen in unserem Umfeld davon betroffen sind.

Deshalb ist es uns bei #darüberredenwir so wichtig, Informationen bereitzustellen und Dialoge über das facettenreiche Thema psychische Gesundheit anzustoßen. Wir können uns gegenseitig dabei unterstützen, die richtigen Worte zu finden und unsere Stimme proaktiv zu nutzen. 

Mit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit in unserem täglichen Sprachgebrauch, können wir das Stigma psychischer Erkrankungen reduzieren und unsere Gesellschaft positiv verändern. 

Das große Los

Karin berichtet davon, welche Hürden Vorurteile für Menschen mit psychischen Erkrankungen darstellen. Sie erklärt, wie wichtig es ist, sich anderen anvertrauen zu können und akzeptiert zu werden.

Ich hatte das große Los gezogen! Nein, kein Brieflos!, – sondern das freudlos, hoffnungslos, kraftlos, beziehungslos, arbeitslos,…-gleich mehrere Lose sozusagen. Manie- und Psychoseerfahrungs-Lose. Diese Lose machten neben aller Verzweiflung, auch reich an Erfahrungen im Umgang, mit Ressourcen, mit Frühwarnzeichen,…dem Leben mit psychischer Krankheit, die mal mehr, mal weniger präsent ist. Aber eine (gesellschaftliche) Lebensrealität ist.

Um psychische Erkrankungen zu enttabuisieren, ist es wichtig, Menschen und deren Angehörige, ihre Abenteuer- und Heldenreisen durch psychische Erkrankungen neu und verändert zu (be-)werten, kennenzulernen und wertzuschätzen. Denn ihre Erfahrungen und Geschichten mit der meist „Unsichtbaren“ und doch viel Platz einnehmenden Krankheit, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Lebensbereiche zieht, sind nur allzu menschlich und brauchen gesellschaftliche Akzeptanz, Platz, Teilhabe und Inklusion.

Ich denke, es ist Hilfe und Bereicherung, vorverurteilte Menschen vor den Vorhang der Stigmatisierung zu holen und so damit beizutragen, Wissen zu vermitteln, um psychische Krankheit auch positiv und mit Hoffnung versehen, zu besetzen. Schließlich hat jeder 4. Mensch im Laufe seines Lebens Erfahrung mit einer psychischen Krise oder längeren psychischen Erkrankung. Im Laufe eines Jahres hat jeder fünfte Mensch in Österreich eine psychische Erkrankung wie Depression, Angststörung oder Psychose. Insgesamt sind 1,2 Millionen ÖsterreicherInnen von einer psychischen Erkrankung betroffen. (Kurier, 8.10.2019) Und genau diese Menschen haben Familie, Freunde und Arbeitskollegen, die genauso davon betroffen sind. Die Ressourcen und Fähigkeiten psychiatrieerfahrener Menschen sind für die Gesellschaft an sich eine Ressource und schaffen Zugang zu einer Erfahrungsdimension, um mit der Brüchigkeit des Lebens gut und sorgsam umzugehen und um autonomere, gesündere und menschlichere Genesungswege zu gehen.

Es ist also längst Zeit, unverhältnismäßig große Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen abzubauen. Und Krankheiten, ob psychischer oder physischer oder beides gleichzeitig, auch in finanzieller Hinsicht der Behandlungskosten, nicht mit zweierlei Maß zu messen.

Leider wurde mir erst sehr spät klar, dass Offenheit, Vertrauen zu Bezugspersonen und Austausch ein großer Schutz sind. Information und Austausch helfen gegen viele falsche Vorurteile (faul, gefährlich, gespalten usw…) von sich selbst und denen der anderen. Diese Vorurteile verstellen oft den Blick und verhindern durch Scham und Schuldgefühle echte, gesundheitsfördernde Kontakte. Wert und Würde, sowie die erschwerte Alltagsbewältigung dünnhäutiger und erkrankter Menschen muss nicht zusätzlich durch das Ringen um Akzeptanz belastet werden. Beziehung und Kontakt, sinnstiftende Aufgaben und sich einbringen im eigenen Maßstab, Selbstfürsorge und Wissen ist Schutz und Prävention vor heftigen Krisen.

Und  außerdem: „Es ist nicht das Ziel des Gesundungsprozesses, normal zu werden. Das Ziel ist, unsere menschliche Berufung anzunehmen, auf tiefere und vollere Weise Mensch‘ zu werden. Das Ziel ist nicht die Normalisierung. Das Ziel ist, der einmalige, Ehrfurcht einflößende, niemals kopierbare Mensch zu werden, der wir aufgerufen sind zu sein.“ (Patricia Deegan, 1995 – Recovery)

Schubladisierung, Verdrängung und Funktionieren müssen, war über lange Zeit eine meiner Bewältigungsstrategien. Glaubenssätze und Schubladendenken verletzten und verschlimmerten die Situation: z.B.: „Stell dich nicht so an, du bist ja nur faul.“, „Du musst doch nur…., dann schaffst du das“, „Dir kann es ja gar nicht schlecht gehen, wenn du es nur so machen würdest wie ich.“ „Dich wird deine Vergangenheit einholen.“ „Du bist ja selber schuld.“ „Du zerstörst unser Leben.“ Jeder ist seines Glückes Schmied… usw. und zeigt auch die Überforderung und Unwissen, wenn plötzlich jemand aus dem Rahmen fällt.

Zum Zeitpunkt meiner  ersten Krankheitssymptome vor 23 Jahren hatten wir alle noch keine anderen Möglichkeiten zur Bewältigung. Bei einem gebrochenen Fuß, einer Schulteroperation, usw. würde man nicht auf die Idee kommen Menschen zu verurteilen, selber schuld zu sein. Man erkundigt sich über die Therapie- und Behandlungsschritte, OP usw…und bekommt Trost, Zuwendung, Nachfragen, Erkundigen usw. Oder zu einem Menschen der im Rollstuhl sitzt, würde man nicht auf die Idee kommen, zu sagen, dass er sich nicht so dumm anstellen solle, und aus seinem Fortbewegungsmittel aussteigen muss und doch selber gehen soll.  Zu unterschiedlichen Zeiten von Krisen braucht es mehr oder weniger Krücken und Hilfe aber immer klares Wissen, Akzeptanz und Wertschätzung: „Die Menschen stärken und die Sachen klären!“ (Hartmut von Hentig)

Vielen Dank für die Zusendung! Es erfordert viel Mut, darüber zu sprechen und wir sind froh, diese Erzählungen mit euch allen teilen zu können. Hast auch Du Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und willst darüber reden? Möchtest du auch ein Statement oder einen Blogbeitrag beisteuern? Dann schicke uns deinen Text, dein Statement, dein Foto,… an darueberredenwir@psd-wien.at.

Coronavirus: Sucht

Das Institut für Suchtprävention Wien hat neben E-Mental Health Angeboten und Online-Reduktionsprogrammen zu Alkohol und Cannabis auf www.mindbase.at spannende Factsheets zur Verfügung gestellt!

Alkohol und andere Suchtmittel

Einige trinken in dieser ungewöhnlichen und fordernden Zeit mehr oder öfter Alkohol als sonst. Wenn Alkohol oder andere Suchtmittel für Sie die einzigen Möglichkeiten darstellen, Stress, Ängste, Sorgen oder auch Langeweile und das Gefühl von Einsamkeit (vermeintlich) abzubauen, dann ist es für Ihre Psyche und Ihren Körper hilfreich, entlastend und gesundheitsfördernd, neue und andere Handlungsmöglichkeiten und Alternativen zu entwickeln.

UMGANG MIT ALKOHOL IN KRISENZEITEN

Krisenzeiten fordern uns heraus. Der Alltag hat sich für viele radikal geändert. Auch wenn wir die Informationen und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verstehen, kommen viele unterschiedliche und intensive Gefühle in uns hoch.

UMGANG MIT SUCHTMITTELN IN KRISENZEITEN – Info für Jugendliche

UMGANG MIT SUCHTMITTELN IN KRISENZEITEN – Info für Erwachsene

Smartphones, Spielekonsolen und PC

Eltern zu sein heißt, immer mehrere Verpflichtungen gleichzeitig
zu bewältigen. Gerade in Krisenzeiten haben viele Eltern den
Eindruck, noch mehr Erwartungen gerecht werden zu müssen:
Jenen der ArbeitgeberInnen, jenen der PartnerInnen, jenen der
Familie. Sie sollen einen guten Umgang mit den eigenen Ängsten
und Befürchtungen pflegen und gleichzeitig für ihre Kinder da
sein. Neben dem eigenen Umgang mit starken Gefühlen machen
sich viele Eltern auch Sorgen um den Umgang der Kinder mit
digitalen Medien.

INFORMATIONEN FÜR ELTERN UND ERZIEHUNGSBERECHTIGTE