Wolfgang Eicher ist Schriftsteller und Mitglied beim Verein Lichterkette. In seinen Texten setzt er sich mit psychischer Gesundheit und seiner eigenen bipolaren affektiven Störung auseinander.
Der Morgen graut. Ich wache auf. Das fahle Licht der Wirklichkeit greift wie ein Monster nach mir. Gestern war nichts. Heute wird auch nichts sein. Morgen? Vielleicht ja morgen… Ich drehe mich auf die andere Seite, um die Wand anzustarren. Die Wand ist weiß. Vereinzelt kleben vergilbte Fotos herum, die eine Vergangenheit zeigen, die ich nicht verstehe. Eigentlich gibt es nur mehr diese Gegenwart, die in alle Zukunft reicht. Ich drehe mich wieder auf die andere Seite. Das Fenster ist fest verschlossen. Dennoch dringt das Licht des neuen Tages herein. Es ist furchtbar. Das kleine bisschen Dunkelheit, das mich durch die Nacht gebracht hat, weicht dem Entsetzen der neuen Situation, die immer gleich ist. Der Tag fordert. Von der Decke tropft ein Druck, der langsam und nachhaltig in meinem Kopf versickert. Er lähmt mich.
Ich habe meine Depression Karl genannt. Karl ist ein ständiger Begleiter meines Lebens. Ich kenne ihn gut. Seine Zähne sind aus Blei und grinsen mich an. Sein Kopf ist rund und rot wie die untergehende Sonne. Manchmal öffnen sich seine Augen, die wie Knöpfe schwarz in meine Seele eindringen. Auch er kennt mich gut. Wir sind alte Bekannte.
Nicht immer begleitet mich Karl durch die Wochen im Bett, Die Erinnerung an bessere Zeiten ist jedoch genauso weg wie das Vertrauen auf die Veränderung. Natürlich möchte ich Karl in die Wüste schicken. Er geht aber nicht hin. Wenn er da ist, ist er da. Irgendwie musste ich lernen, das zu akzeptieren, um weiter leben zu können.
Aus der Stille der schweißnassem Federn blicke ich in das Nichts meines Zimmers, das aus wertlosen Dingen besteht, die wahllos herumliegen. Karl sitzt auf dem Kasten und lächelt mich an. Er hat es sich sehr gemütlich eingerichtet bei mir. Auch ich liege noch gemütlich im Bett. Aber ich bin nicht mehr müde. Das heißt, ich kann nicht länger schlafen. Es ist jetzt unmöglich, meiner Situation zu entfliehen, indem ich einfach die Augen schließe. Daher starre ich die Decke an. Ich habe keine Gedanken. Ich habe auch keine Gefühle. Langsam steigen Angst und Panik in mir empor.
Der Doktor hat gesagt, ich muss jeden Tag raus. Das sei eine therapeutische Notwendigkeit. Eine Stunde, oder wenigstens eine halbe langsam spazieren gehen. Er meint damit nicht Sport, er ist Realist. Einfach nur Sonne und frische Luft. Am besten wäre es natürlich in der Natur, im Wald oder auf einer Wiese.
Das Draußen jedoch liegt hinter einer hohen Mauer, die von Karl bewacht wird. Irgendwo existiert ein Loch. Ich finde es aber nicht. Nur wenn es zur Therapie geht, zeigt mir Karl das Loch. In der Therapie geht es um mein Zusammenleben mit Karl. Es wäre falsch, gegen ihn zu kämpfen, meint die Therapie. Was aber dann? Die Therapie weiß darauf viel zu sagen. Es kommt jedoch nicht mehr an. Es ist zu anstrengend, der Therapie zu folgen. Überhaupt ist alles so anstrengend.
Eines ist in meinem Kopf verblieben. Es ist ein einfacher Satz. Karl wird wieder verschwinden. Die Depression wird enden! Irgendwann. Das haben mir viele Menschen gesagt. Außerdem hat das meine Erfahrung gesagt. Bisher ist jede Depression auch wieder zu Ende gegangen! Die Vernunft in mir sagt mir das immer wieder. Ich bete es. Ich kann es jedoch nicht fühlen. Die Präsenz von Karl füllt mich vollkommen aus und verhindert die Gedanken an den Tag, an dem er sein Grinsen verliert. Dieser Tag wird dennoch kommen.