„Die kranken Kinder von Moria“ Siegerinnenbeitrag Stephan-Rudas-Preis in der Kategorie Print

Im Flüchtlingslager auf Lesbos grassiert unter Kindern eine sonderbare Krankheit. Silke Weber hat sich in ihrem in der „Zeit“ erschienenen Beitrag mit einem Krankheitsbild, der fast ausschließlich junge Flüchtlinge betrifft, auseinandergesetzt.

Für rund 3.000 Menschen ist das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos angelegt. Als Durchgangslager konzipiert, in dem Erstregistrierungen der Flüchtlinge organisiert und durchgeführt werden sollen, platzt es immer mehr aus allen Nähten. Die griechischen Behörden sind mit der Situation überfordert. Zum Zeitpunkt des Berichts lebten rund 20.000 Menschen in Moria, darunter etwa 6.000 Kinder. Viele von ihnen bereits viele Monate in einer an ein Slum erinnernden Zeltstadt.

Apathie
Immer mehr Kinder fallen in Apathie. Sie geben Sprechen, Bewegen und Essen auf. Mediziner gehen von einem bestimmten Krankheitsbild aus, wenn sich die Aktivitäten in zumindest drei der sechs Bereiche deutlich verringern:  Sprechen, Essen, Mobilität, Sozialleben, Körperpflege und -hygiene, Ansprache auf Fürsorge- und Ermutigungsmaßnahmen. Der Zustand, der meist schrittweise beginnt, kann bis zu einem Starrezustand führen.

Die siebenjährige Nazanin lächelt überhaupt nicht mehr. Sie malt auch nicht mehr, spricht nicht mehr, und das Essen hat sie fast aufgegeben. Nazanin hockt auf dem Boden der dunklen Hütte, ein Bett gibt es nicht, und starrt ins Leere. Es ist, als würde sie durch uns hindurchgucken, sagt die Mutter.

Silke Weber, Die Kranken von Moria In: Die Zeit

Selbstaufgabe-Syndrom
Erste Fälle sind aus den 1990er Jahren in Schweden bekannt, als die Symptome bei vier Kindern festgestellt wurden, deren Familien im Balkankrieg geflohen waren. Damals nannte man die Krankheit Uppgivenhetssyndrom, also Selbstaufgabe Syndrom. 2014 wurde das Syndrom unter diesem Namen in das schwedische Register der psychischen Erkrankungen aufgenommen. Anfang des 21. Jahrhunderts häuften sich in Schweden die Fälle. 2004 waren es bereits 182. Dem schwedischen Neurowissenschaftler Karl Sallin sind bis zum heutigen Tag in Schweden rund 1.000 Fälle bekannt. Anfängliche Vorwürfe, die Kinder würden versuchen, Aufmerksamkeit zu erlangen und einen positiven Asylstatus zu erhalten oder sogar Vorwürfe an Eltern, sie würden Kinder absichtlich vergiften, konnten als Fake-News identifiziert werden.

Ein neunjähriges Mädchen aus Afghanistan sucht Schutz in einem Zelt im Lager Moria auf Lesbos (C) Marie Dorigny/M.Y.O.P./laif

International gibt es bis heute keinen eindeutigen Begriff: Resignation Syndrome (RS), Pervasive Refusal Syndrome (PRS), depressive Devitalisierung (DD), Traumatic Withdrawal Syndrome (TWS), Giving-up-Syndrome oder einfach apathische Flüchtlingskinder sind gebräuchliche Bezeichnungen.

Neben Schweden, haben sich dieselben Krankheitssymptome auch auf der Insel Nauru gezeigt, wo Australien ein Auffanglager für Flüchtlinge errichtet hat. Mittlerweile sind dort – nach Druck der Zivilgesellschaft – keine Kinder mehr untergebracht. Auf Lesbos leben aber bis heute Kinder in Apathie.

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