Dr.In Koubek leitet das Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulatorium Leopoldstadt

Zwischen Stigma und Überpathologisierung

Im Interview mit #darüberredenwir spricht die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Ärztliche Leitung des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulatoriums Leopoldstadt der Psychosozialen Dienste in Wien, Dr.in Doris Koubek, über aktuelle Herausforderungen, Belastungen und Behandlungswege für junge Patient*innen.

DRW: Aktuelle Krisen haben insbesondere jungen Menschen zugesetzt. Die Pandemie, Krieg, Naturkatastrophen, die Klimakrise und die Teuerung bekommen, belasten Kinder und Jugendliche psychisch zwar unterschiedlich stark – aber die Belastungen sind da. Wie wirken sich diese aus?

Dr.in Doris Koubek: Wir haben bereits in der Pandemie einen erschreckenden Anstieg an psychiatrischen Erkrankungen gesehen: Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und Suizidgedanken haben sich gehäuft. Zudem ist “die Jugend” ein ganz besonderer Zustand im neurobiologischen Sinne. Wir probieren neue Dinge aus, wir gehen Risiken ein, wir lernen uns selbst kennen. Gleichzeitig ist eine hohe Bereitschaft zu emotionalen Reaktionen der Grund, dass Krisen mehr auf uns Einfluss haben. Doch wie auch bei Erwachsenen, sind es besonders marginalisierte Kinder und Jugendliche, die die psychischen Folgen der Krisen zu spüren bekommen. Beispielsweise werden Ängste und Verzweiflung über aktuelle problematische Situationen ungefiltert auf den Alltag übertragen.

Foto: (c) Wirlphoto

Von welchen Kindern und Jugendlichen sprechen wir hier?

Es geht dabei um junge Menschen, die von Armut betroffen sind. Die natürlich die Verzweiflung der Eltern mitbekommen, die selbst an ihrer Zukunft zweifeln, die nicht die Möglichkeiten auf Unterstützung haben, weil Wissen und Geld fehlt. Es geht auch um Kinder und Jugendliche, die keine stabilen Familienverhältnisse haben, die fremduntergebracht worden sind, die früh schwer traumatisiert wurden, die Gewalt erlebt haben. Das betrifft auch geflüchtete Menschen, besonders vulnerabel sind hier unbegleitete Minderjährige. Kinder und Jugendliche haben es derzeit nicht leicht, aber es wäre falsch, so zu tun, als gäbe es nicht signifikante Unterschiede, die sich auch auf die psychische Gesundheit bzw. die Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen auswirken.

Welche Anzeichen gibt es für eine psychische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen?

So pauschal kann das nicht festgelegt werden. Diagnosen sind vielfältig und komplex. Wir Behandler*innen beobachten derzeit eine besonders paradoxe Situation: Einerseits existiert nach wie vor ein extrem großes Stigma rund um das Thema Psychiatrie und psychische Erkrankungen, andererseits wird das Verhalten von Kindern und Jugendlichen überpathologisiert. Man muss sich fragen, was gehört zur Adoleszenz, was gehört zum Erwachsen werden dazu? Dass junge Menschen Wut, Angst und Liebe anders empfinden, liegt auf der Hand – der Umgang mit Emotionen und eine Kontrolle der Impulse wird in dieser Zeit gelernt. Oder sollte gelernt werden. Auch hier spielen Ressourcen und Umgebung eine große Rolle für Kinder und Jugendliche.

Wir beobachten beispielsweise, dass Mobbing grausamer geworden ist. Oftmals werden junge Menschen nicht ernst genommen, aber ihnen wird massive Gewalt von Gleichaltrigen angetan – das darf nicht unterschätzt werden.

“Von meinen Patient*innen geben etwa 60-65 Prozent an, mindestens einmal gemobbt worden zu sein, auf erschreckende Art und Weise. Wichtig wäre es, dass sie sich früh jemandem anvertrauen können und dass ihnen geglaubt wird.”

Was können Eltern, Betreuer*innen und Ärzt*innen tun, wenn der Verdacht einer psychischen Krise oder Erkrankung vorliegt?

Psychische Krisen gilt es ernst zu nehmen. Genau zuzuhören und auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen, ist sehr wichtig. Kinder und Jugendliche sollten sich aber bewusst sein, dass regelmäßiger Schlaf, Motivation, Freude wichtige Indikatoren für ein gesundes Leben sind. Wenn Freud- und Motivationslosigkeit, lang anhaltender Schlafmangel oder Schlafstörungen den Alltag bestimmen, wenn ein extremen Rückzug und Isolation stattfinden, plötzlich Veränderungen im Verhalten, dann sollte das Gespräch gesucht werden. Aber eben auch die richtige Unterstützung aufzusuchen. Grundsätzlich gilt es, wie bei allen Erkrankungen, eine fachärztliche Einschätzung oder Diagnose einzuholen. So kann dann der weitere Behandlungsweg gemeinsam erstellt werden. Aber auch hier sind wir uns sehr bewusst, dass es für Erwachsene ohne (manchmal auch mit) der richtigen Ausbildung und den notwendigen Ressourcen nicht einfach ist. Trotzdem ist es besser, sich über beispielsweise telefonische Angebote beraten zu lassen, anstatt wegzuschauen.

“Ich erlebe eine gewisse Vereinsamung der Kinder und Jugendlichen, denen es nicht gut geht, die aber in erster Linie auf Verständnis hoffen. In unserer Leistungsgesellschaft ist es sehr schwierig, dass es einem einfach mal schlecht geht. Ob eine Phase der Traurigkeit wegen Liebeskummer oder Streit mit dem besten Freund – alles kann eine Belastung darstellen, die man auch gemeinsam aushalten muss, anstatt alles dafür zu tun, dass sie sofort verschwinden.”

Jugendliche haben durch Social Media und den Generationenwechsel eine wesentlich offenere Gesprächsbasis. Psychotherapie und das Wissen rund um verschiedene Krankheitsbilder sind wesentlich höher. Wieso ist es dennoch, notwendig, junge Menschen aufzuklären?

Insbesondere Online lauern die Fallen der Fake-News oder simplifizierten Diagnosen, die fachlich nicht ausreichend sind. Zudem erleben wir auch, dass es nach wie vor enorme Defizite, und dass es Vorurteile beim Thema Psychiatrie und Behandlungsformen, wie etwa eine medikamentöse Therapie, gibt. Viele Menschen haben schon von der Psychotherapie gehört, kennen den stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Abteilung nur aus Horror-Filmen und von ambulanter Behandlung haben sie noch nie etwas gehört.

Was bedeutet „ambulante Versorgung“ und was geschieht dort?

Hier soll gewährleistet werden, dass so gut es geht, der Alltag der Kinder und Jugendlichen in die Behandlung miteinfließt. Die Hauptaufgabe der Ambulatorien liegt in der medizinischen Behandlung und in der Unterstützung bei der persönlichen,sozialen und schulischen bzw. beruflichen Entwicklung. Die zugehörigen Tageskliniken können von Kindern und Jugendlichen als Alternative zu einer stationären Behandlung. Die jungen Patient*innen werden von einem multiprofessionellen Team behandelt, betreut und begleitet: Fachärzt*nnen für Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, Klinische Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Ergotherapeut*innen und Physiotherapeut*innen. Die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Angehörigen sind für die jungen Patient*innen und deren Bezugspersonen sehr wichtig.

Foto: (c) Wirlphoto

Haben Kinder und Jugendliche mit Essstörungen einen so speziellen Behandlungsbedarf?

Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch einen individuellen Behandlungsbedarf. Daher ist auch unser multiprofessioneller Ansatz so wichtig. Wie viele psychische Erkrankungen ist auch die Essstörung im Sinne eines biopsychosozialen Modells zu betrachten. Veranlagungen und Umstände sind entscheidende Faktoren für die Entstehung.

Eine Essstörung ist jedoch eine der schwersten Erkrankungen, die wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) haben, da sie massive körperliche Schäden nach sich zieht bzw. ziehen kann. Wir brauchen hierbei unbedingt die fachärztliche Behandlung und erfahrene Professionist*innen, da die Erkrankung äußerst komplex ist und leicht chronifiziert – im schlimmsten Fall verhungern die Patient*innen. Psychotherapie reicht hier alleine nicht! Zudem braucht es besondere Sensibilität und Wissen, denn im Hintergrund läuft bei den Patient*innen ein Programm ab, das kaum etwas mit dem Gespräch mit dem Gegenüber zu tun hat. 

Wo sehen Sie die aktuellen Herausforderungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Wir haben einen extremen Mangel an Fachärzt*innen. Das hört nicht bei Kinder- und Jugendpsychiater*innen und psychiatrischem Pflegepersonal auf, das betrifft alle Bereiche, die Kinder und Jugendliche mit psychische Problemen umfassen. Etwa Sozialpädagog*innen, soziale Berufe, die Heime und Wohgemeinschaften betreuen, all das sind extrem anspruchsvolle Jobs, die durch den Mangel an Personal und Ressourcen nicht einfacher werden.

“Wenn ein bis zwei Betreuer*innen 8-10 teilweise traumatisierte Jugendliche mit psychischen Problemen betreuen, fällt natürlich die so wichtige Beziehungsarbeit extrem schwer.”

Das macht es noch schwieriger, die sehr vielen Kinder und Jugendlichen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, unterschiedlichen Bedürfnissen durch unterschiedliche Maßnahmen zu unterstützen und behandeln. Denn eigentlich müssten wir alle, die mit den Patient*innen zu tun haben, an einem Tisch sitzen und uns genau anschauen, was für den jungen Menschen passen würde: Medikament, Therapieform, Setting, ob vollstationär, ambulant,…

Der psychosoziale Dienst möchte auf all diese Themen und Forderungen mit der Kampagne #darüberredenwir aufmerksam machen. Was braucht es denn, damit die Menschen eine möglichst gesunde Psyche haben?

Die Entstigmatisierung aller psychischen Erkrankungen und der Behandlung ist eine wichtige Säule. Nur wenn wir tabulos darüber reden können, kann Betroffenen adäquat geholfen werden. Aber es ist auch eine Frage der Verteilung, der Gerechtigkeit, der Vielfalt: Auch im Gesundheitssystem, so gut es in Österreich ist, gibt es Ausschlussmechanismen. Das trifft etwa Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die sich am Land befinden, das betrifft Menschen mit weniger Bildungschancen, Sprachbarrieren usw. Psychische Gesundheit sollte kein Privileg sein, sondern für jeden Menschen eine Selbstverständlichkeit – egal woher er kommt. Kontaktaufnahme bzw. Möglichkeit klären.

Wenn Du Fragen hast, wende dich gerne an die Psychosoziale Information der Psychosozialen Dienste in Wien:

  • 01 4000 53060 – von 08:00 bis 17:00 Uhr täglich

Wenn Du Dich belastet fühlst, nimm die Wiener Sorgenhotline in Anspruch – damit Sorgen nicht zur Krise werden:

  • 01 4000 53000 – von 08:00 bis 20:00 Uhr täglich

In akuten psychiatrischen Notfällen wende Dich an den Psychosozialen Notdienst des PSD-Wien:

  • 01 31330 – rund um die Uhr

Der Artikel mit Dr.in Doris Koubek erschien im Juni 2023 in gekürzter Form in ÄRZTE EXKLUSIV.

#NeueMännlichkeiten für die Psyche

#NeueMännlichkeiten für die Psyche – Männergesundheit im Fokus

Es ist Movember – das Monat der Männergesundheit! Das werden wir nutzen, um den Fragen nach heutigen Männlichkeit(en) auf den Grund zu gehen. Was können Männer, was dürfen sie und was sollen sie? Was bedeutet „Mann sein“ im 21. Jahrhundert? Und warum sind diese Fragen relevant für die Gesundheit?

Männer und Gesundheit

Der Monat November dient dazu, das Bewusstsein rund um die Gesundheit von Männern zu fördern. Das betrifft natürlich auch die psychische Gesundheit. Egal ob anhaltende Knieschmerzen, eine gebrochene Hand oder psychische Krisen – professionelle Hilfe, frühmöglichste Behandlung und Achtsamkeit sind in allen Fällen notwendig. 2004 erschien der erste Österreichische Männergesundheitsbericht mit besonderer Berücksichtigung der Männergesundheitsvorsorge. Hier zeigte sich, dass sich Männer, statistisch gesehen, im Durchschnitt gesünder einschätzen als sie sind.

Darin steht auch:

„Bei Männern dürfte es der gegenwärtigen Rollenerwartung entsprechen, weniger sorgsam mit dem eigenen Körper zu sein, als Frauen.”

1. Österreichischer Männergesundheitsbericht

Die Folge davon: 

  • Männer neigen beruflich und in der Freizeit zur Überbeanspruchung ihres Körpers und bemerken Probleme später als Frauen, die regelmäßig einen Frauenarzt konsultieren
  • Bei Männern wird erst in einem höheren Lebensalter die Notwendigkeit der regelmäßigen Untersuchung durch einen Urologen evident. 
  • Selbst wenn Männer im höheren Lebensalter um die Notwendigkeit von Vorsorgeuntersuchungen Bescheid wissen, nehmen sie diese meist erst in Anspruch, wenn eine deutliche Symptomatik aufgetreten ist. 

Rollenbilder und Männlichkeit

Bereits der vor mehr als 15 Jahren erschienene Bericht stellte fest, dass “Rollenerwartungen” von und an Männer ihre Gesundheit beeinträchtigt. Auch andere Rollenklischees hindern Burschen und Männer daran, die Hilfe in Anspruch zu nehmen, die sie brauchen: “Männer reden nicht über ihre Gefühle”, “Männer weinen nicht”, usw.. Das zeigt sich auch beim Thema psychische Erkrankungen. Denn einerseits ist das Aufsuchen von Unterstützung schwieriger, andererseits sind die Symptome etwa bei einer Depression andere als bei Frauen. Depressive Symptome sind bei Männern eher Aggression, Gereiztheit oder exzessiver Konsum. 

Das Bild von Männlichkeit ist geprägt von Schlagwörtern wie Stärke, Kraft, Durchsetzungsvermögen und Dominanz. Dieses Bild schadet nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem einzelnen Mann. Daher wollen wir uns im Movember mit neuen Perspektiven und Ansätzen beschäftigen. 

Quellen:

medizinische Waage

„Haben Essstörungen ein Geschlecht“ – Siegerinnenbeitrag Stephan-Rudas-Preis in der Kategorie online

Magdalena Grunt setzt sich in ihrem auf Youtube zu sehenden Beitrag mit Vorurteilen gegenüber Männern mit Essstörungen auseinander.

Sensibel wird das Vorurteil, Essstörungen seien eine typische “Frauenkrankheit” aufgebrochen, um auch erkrankte Männer sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, sondern auch darum, Geschlechterklischees zu enttarnen.  Mit dem Videobeitrag möchte Magdalena Grunt Stigmatisierung entgegenwirken, mehr Bewusstsein für die Erkrankung schaffen, dazu ermutigen, offen darüber zu sprechen und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.

Darüber zu reden hilft

„Am meisten hat mir geholfen, als ich begonnen habe, darüber zu reden“, sagt der von Grunt portraitierte Musiker Tino Romana in der Reportage. Schon in der Volksschule habe er Mobbing erlitten, fehlende Bezugspersonen kompensierte er mit Essen. „Das Essen wurde zu meinem besten Freund, zu meiner Bezugsperson“, so Tino. In der Schule wurde er von den anderen Kindern auf Grund seines relativ hohen Gewichts ausgeschlossen und aufgezogen. Von Erwachsenen fühlte er sich nicht ernst genommen. Als der Leidendruck später zu groß wurde, beschloss er gar nicht mehr zu essen. Schnell hat er an Gewicht verloren, was zur Magersucht führte. Auch Mediziner*innen, die er aufgesucht hat, haben sich meist mit äußerlichen Symptomen auseinandergesetzt und sind selten auf die Psyche eingegangen, erzählt Tino.

„Wenn Frauen über Essstörungen sprechen, ist das immer ein sehr, sehr ernstes Problem. Wenn Männer darüber sprechen heißt es meist, iss mehr oder geh ins Fitnesscenter, um zuzunehmen‘.

Tino Romana in: „Haben Essstörungen ein Geschlecht“

Verschiedene Ursachen

Bei den Gründen für eine Essstörung gäbe es grundsätzlich kaum einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, erläutert die Systemische Familientherapeutin Gudrun Stempkowski. „Es ist multifaktoriell und hat mit verschiedenen Ursachen zu tun. Nach diesen Ursachen ist zu suchen, denn nur das Essverhalten zu ändern, wird die Essstörung nicht ändern.“ Immer noch seien Essstörungen ein Tabuthema, gerade unter Männern. Es herrscht immer noch ein falscher Ansatz vor, meint Tino. „Es ist keine Schwäche, wenn man über seine Schwäche redet. Im Gegenteil, man zeigt Stärke, wenn man über seine Probleme redet.“

Statistik

Statistiken zeigen einen deutlichen Anstieg der Fälle von Essstörungen bei Männern und hier vor allem bei sehr jungen. Zwischen 2008 und 2018 steig die Zahl der jungen Männer zwischen 12 und 17 Jahren um 60 Prozent. Mittlerweile machen Männer ein Viertel aller Fälle on Essstörungen aus. Zehn Jahre davor war es noch ein Fünftel.

Über Magdalena Grunt

Die 1999 in Wien geborene Journalistin Magdalena Grunt ist Mitbegründerin des journalistischen Kollektivs VORLAUT, das Politdiskurse und soziale Missstände aus einem intersektional-feministischen Blickwinkel betrachtet.

Das Video

Der Beitrag kann auf Youtube gesehen werden.

Stephan-Rudas-Preisträgerinnen 2022 stehen fest

Magdalena Grunt, Tiba Marchetti und Silke Weber erhielten Auszeichnung für fundierte Berichterstattung über psychische Erkrankungen.

Mit ihrer Dokumentation „Haben Essstörungen ein Geschlecht“ gewann Magdalena Grunt mit ihrem Team des journalistischen Kollektivs VORLAUT in der Kategorie „Online“. Tiba Marchetti erhielt den Preis in der Kategorie „Rundfunk/TV“ mit der in der Sendung „Am Schauplatz“ (ORF) ausgestrahlten Reportage “Ohne Worte”. In der Kategorie „Print“ überzeugte Silke Weber mit dem in der „Zeit“ veröffentlichten Text „Die kranken Kinder von Moria“ die Fachjury. Die preisgekrönten Journalistinnen erhielten ihre Auszeichnungen im Rahmen des Tages der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus am 3. Oktober.

„Der Preis für fundierte Berichterstattung über psychische Erkrankungen wurde nun zum fünften Mal verliehen. Wir freuen uns, dass die Zahl der Einreichungen immer höher wird und dies auch mit einer sehr hohen Qualität der Beiträge einhergeht“, sagte der Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner, bei der Verleihung. „Tabus, Scham und Verdrängung schaden ganz besonders, wenn es um psychische Störungen und Erkrankungen geht. Der Stephan-Rudas-Preis ist ein wichtiger Beitrag für einen vorurteilsfreien und unbelasteten Zugang zu Vorbeugung und Behandlung“, betonte auch Dr. Michael Binder, medizinischer Direktor des Wiener Gesundheitsverbundes.

Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner, bei der Verleihung des Stephan-Rudas-Preises 2022 (Copyright: Barbara Wirl)

Journalist*innen spielen in der Vermittlung von faktenbasiertem Wissen zu psychosozialen Erkrankungen eine entscheidende Rolle. Sie können durch die Darstellung von Erfahrungsexpert*innen und einer bewussten Sprache der Stigmatisierung entgegentreten.

Ewald Lochner,Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner

Die Siegerinnen

  • Magdalena Grunt: „Haben Essstörungen ein Gesicht“
    Die 1999 in Wien geborene Journalistin Magdalena Grunt ist Mitbegründerin des journalistischen Kollektivs VORLAUT, das Politdiskurse und soziale Missstände aus einem intersektional-feministischen Blickwinkel betrachtet.Der im März 2022 auf Youtube erschienene Beitrag “Haben Essstörungen ein Geschlecht” setzt sich mit Vorurteilen gegenüber Männern mit Essstörungen auseinander. Sensibel wird Essstörungen als typische “Frauenkrankheit” aufgebrochen, um auch erkrankte Männer sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, sondern auch darum, Geschlechterklischees zu enttarnen. . Mit dem Videobeitrag möchte Magdalena Grunt Stigmatisierung entgegenwirken, mehr Bewusstsein für die Erkrankung schaffen, dazu ermutigen, offen darüber zu sprechen und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.
  • Tiba Marchetti: „Ohne Worte“
    Tiba Marchettis ist Redakteurin der ORF Sendung „Am Schauplatz“. Als solche hat sie sich in der Reportage „Ohne Worte“ mit der Volkskrankheit Demenz auseinandergesetzt. Sie hat dafür Betroffene und Angehörige besucht und sich auch verschiedene Einrichtungen angesehen – vom Demenzdorf in Deutschland bis zum Pflegewohnheim in Wien.
    Sie thematisiert dabei eine Krankheit, über die nicht gerne geredet wird – obwohl etwa 140.000 Menschen in Österreich betroffen sind und sich die Zahl in den kommenden Jahrzehnten zumindest verdoppeln wird. Sie ging unter anderem den Fragen nach, wie diese versteckte Volkskrankheit verläuft, wie viele Jahre man damit leben kann und zeigt uns Zuschauer*innen, wie das Leben für Erkrankte und Angehörige aussieht.
  • Silke Weber „Die kranken Kinder von Moria“
    Die studierte Soziologin und Philologin Silke Weber behandelt in ihrem in der Zeit erschienenen Text eine sonderbare Krankheit: Augenscheinlich gesunde Kinder fallen während ihres Aufenthalts im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos in totale Apathie. Sie versucht der Erkrankung auf den Grund zu gehen und setzt sich tiefergehend mit dem Resignation Syndrom auseinander. Dabei lässt sie die Leser*innen jedoch keine Sekunde vergessen, dass es Kinder und Jugendliche sind, die von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen wurden.

Tag der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus

Der 3. Oktober 2022 stand in Wien ganz im Zeichen der psychischen Gesundheit. Auf Initiative des Wiener Gesundheitsverbundes (Wigev) und der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD-Wien) wurde der Tag der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus begangen. Mehr als 50 Organisationen, die Beratung, Behandlungen oder Selbsthilfe zum Thema psychische Gesundheit, Krisen und Sucht in der Stadt Wien anbieten, haben sich im Wiener Rathaus präsentiert und einen Überblick über die vielfältige Landschaft ermöglicht.

Kinder- und Jugendpsychiatrie als Schwerpunkt

In einer Diskussion bei der Verleihung betonte der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Georg Psota: „Kinder und Jugendliche waren in den vergangenen Jahren von der Pandemie besonders betroffen, hinzu kommen der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, die Teuerungen. Die Folgen andauernder psychischer Belastungen sind enorm. Zum Beispiel haben fehlende soziale Kontakte und damit einhergehende physische Einsamkeit haben unter anderem dazu geführt, dass Essstörungen und Depressionen gerade bei jungen Menschen stark zugenommen haben. Die Psychosoziale Versorgung muss personell massiv gestärkt werden.“ Psychiatriekoordinator Ewald Lochner forderte einmal mehr, dass sämtliche Hürden beim Zugang zum Medizinstudium abgebaut werden: „Wir brauchen dringend Fachärzt*innen! Es gab dieses Jahr 12.000 Teilnehmer*innen beim Medizin-Aufnahmetest – man ließ über 10.000 Interessierte einfach ziehen, weil es nicht genügend Studienplätze gibt. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass sich grundlegende Dinge im System ändern müssen.“ Gleichzeitig sei es ebenso wichtig, deutlich zu machen, dass eine psychische Erkrankung eine Krankheit ist, wie auch jede somatische ist.

Der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Dr. Georg Prota (links), bei der Verleihung des Stephan-Rudas-Preises 2022.
(Copyright: Barbara Wirl)

Zum Beispiel haben fehlende soziale Kontakte und damit einhergehende physische Einsamkeit haben unter anderem dazu geführt, dass Essstörungen und Depressionen gerade bei jungen Menschen stark zugenommen haben.

Dr. Georg Psota, Chefarzt, Psychosoziale Dienste in Wien

Psychiater und Psychiatriereformer: Prof. Dr. Stephan Rudas (1944-2010)

„Die Seele ist ein unsichtbares Organ und wird übersehen, wenn man nicht über sie redet.” (15.12.2001) — Prof. Rudas hat nicht nur über die Seele geredet, sondern für sie gelebt. Ohne ihn hätte es die Wiener Psychiatriereform und den PSD-Wien nicht gegeben: Gemeinsam mit dem damaligen Stadtrat für Gesundheit und Soziales Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Alois Stacher (1925-2013) revolutionierte Prof. Rudas als PSD-Gründungschefarzt die psychiatrische Versorgung in Wien. Diese gesundheits- und sozialpolitisch höchst bedeutsame Epoche veränderte die Lebensrealität chronisch psychisch kranker Menschen fundamental.

Dr. Stephan Rudas