„Suchterkrankung ist eine psychiatrische Erkrankung“

Dr.in Regina Walter-Philipp ist seit dem 1. Februar neue ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien (SHW). Seit fast 10 Jahren ist die Allgemeinmedizinerin in der Suchthilfe in unterschiedlichen Bereichen tätig: im Ambulatorium, im regionalen Kompetenzzentrum und als arbeitsmedizinische Betreuerin im gesamten Unternehmen. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang, Zukunftsideen, die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Berufsgruppen sowie über das Zusammenwachsen der Medizin bei legalen und illegalen Substanzen und zwischen psychosozialen Problemlagen, sozialer Exklusion und Suchterkrankungen.

DRW: Könnten Sie kurz umreißen, wie Sie Ihre Funktion sehen und wie diese in Zukunft aussehen soll?

Dr.in Regina Walter-Philipp: Ich sehe meine Hauptaufgabe vor allem darin, mir anzusehen, welche weiteren Angebote es in Zukunft geben soll. Da gäbe es aus meiner Sicht einiges, was Sinn macht. Zum einen ist das der Bereich der intravenösen Substitution, von dem ich mir wünsche, dass er ausgebaut wird und irgendwann in Regelbetrieb geht. Zum anderen möchte ich mich wirklich auch stark dem Thema Alkohol widmen. Und zwar auch ein bisschen im Zusammenhang mit illegalen Substanzen, alles was kombinierte und Mehrfachabhängigkeiten sind.

Ist die kombinierte – oder Mehrfachabhängigkeit ein großes Thema?

Man sieht das einfach, wenn man in beiden Bereichen gearbeitet hat. Beim regionalen Kompetenzzentrum ist es natürlich immer wieder der Fall, dass neben der Alkoholerkrankung auch andere Substanzen im Spiel sind. Bei illegalen Substanzen wissen wir, dass etwa die Hälfte der Klient*innen auch Alkoholprobleme haben.

Wäre es wünschenswert, wenn es bei der Behandlung der illegalen und legalen Substanzgruppen stärkere Überschneidungen gäbe?

Das wäre bestimmt etwas, was ich mir für meine Aufgabe hier bei der SHW wünschen würde. Jetzt ist es ja so, dass die Bemühungen stärker werden, die Verbindungen mit der Psychiatrie zu schaffen. Irgendwann, finde ich, darf auch die Unterscheidung illegal und legal nicht mehr so massiv sein. Im Grunde handelt es sich immer um eine Suchterkrankung. Die Behandlungsmodelle sind nicht unähnlich und das gilt auch für die Ursachen. Dadurch, dass es viele Überschneidungen gibt und wenige isolierte Abhängigkeiten, denke ich, dass es Zeit wird, hier Projekte zu kombinierte Abhängigkeiten zu schaffen.

Die Überschneidung psychischer Erkrankungen und Suchterkrankungen haben Sie bereits angesprochen. Wie hängt das aus Ihrer Sicht zusammen?

Suchterkrankung ist eine psychiatrische Erkrankung. Sie ist im Klassifikationssystem der Erkrankungen so verortet. De facto ist es so, dass Patient*innen mit einer Suchterkrankung häufig psychiatrische Komorbiditäten haben und umgekehrt entwickeln Patient*innen mit einer psychiatrischen Erkrankung häufig eine Suchterkrankung. Das bedingt sich von beiden Seiten.

“Was zuerst war, weiß man oft auch nicht mehr. Diese Verbindungen gibt es und da muss man einfach auch hinschauen.”

Stichwort Stigmatisierung auch gegenüber suchterkrankten Personen. Aus Ihrer Erfahrung: Hat sich in den vergangenen Jahren hier etwas verbessert?

Ich habe hier natürlich eine eingeschränkte Wahrnehmung. Das ist so, wie wenn man schwanger ist und auf der Straße nur noch schwangere Frauen sieht. Ich habe das Gefühl, hier in diesem Umfeld – zumindest innerhalb dieser Blase –, nimmt die Stigmatisierung bei suchtkranken Menschen untereinander selbst ein bisschen ab. Es ist nämlich tatsächlich so, dass sich suchtkranke Menschen oft gegenseitig stigmatisieren, indem sie sagen, ich bin kein „Junkie“ oder ich bin kein „Alkoholiker“. Aber ich glaube, dass draußen noch ganz viel Aufklärungsarbeit passieren muss. Bei Alkohol zeigt sich das gut: Sobald das Trinkmuster zur Erkrankung wird, wollen wir nicht mehr viel damit zu tun haben. Offiziell stigmatisiert werden Menschen mit einem illegalen Substanzkonsum.

Danke für das Gespräch.

Dr.In Koubek leitet das Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulatorium Leopoldstadt

Zwischen Stigma und Überpathologisierung

Im Interview mit #darüberredenwir spricht die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Ärztliche Leitung des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulatoriums Leopoldstadt der Psychosozialen Dienste in Wien, Dr.in Doris Koubek, über aktuelle Herausforderungen, Belastungen und Behandlungswege für junge Patient*innen.

DRW: Aktuelle Krisen haben insbesondere jungen Menschen zugesetzt. Die Pandemie, Krieg, Naturkatastrophen, die Klimakrise und die Teuerung bekommen, belasten Kinder und Jugendliche psychisch zwar unterschiedlich stark – aber die Belastungen sind da. Wie wirken sich diese aus?

Dr.in Doris Koubek: Wir haben bereits in der Pandemie einen erschreckenden Anstieg an psychiatrischen Erkrankungen gesehen: Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und Suizidgedanken haben sich gehäuft. Zudem ist “die Jugend” ein ganz besonderer Zustand im neurobiologischen Sinne. Wir probieren neue Dinge aus, wir gehen Risiken ein, wir lernen uns selbst kennen. Gleichzeitig ist eine hohe Bereitschaft zu emotionalen Reaktionen der Grund, dass Krisen mehr auf uns Einfluss haben. Doch wie auch bei Erwachsenen, sind es besonders marginalisierte Kinder und Jugendliche, die die psychischen Folgen der Krisen zu spüren bekommen. Beispielsweise werden Ängste und Verzweiflung über aktuelle problematische Situationen ungefiltert auf den Alltag übertragen.

Foto: (c) Wirlphoto

Von welchen Kindern und Jugendlichen sprechen wir hier?

Es geht dabei um junge Menschen, die von Armut betroffen sind. Die natürlich die Verzweiflung der Eltern mitbekommen, die selbst an ihrer Zukunft zweifeln, die nicht die Möglichkeiten auf Unterstützung haben, weil Wissen und Geld fehlt. Es geht auch um Kinder und Jugendliche, die keine stabilen Familienverhältnisse haben, die fremduntergebracht worden sind, die früh schwer traumatisiert wurden, die Gewalt erlebt haben. Das betrifft auch geflüchtete Menschen, besonders vulnerabel sind hier unbegleitete Minderjährige. Kinder und Jugendliche haben es derzeit nicht leicht, aber es wäre falsch, so zu tun, als gäbe es nicht signifikante Unterschiede, die sich auch auf die psychische Gesundheit bzw. die Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen auswirken.

Welche Anzeichen gibt es für eine psychische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen?

So pauschal kann das nicht festgelegt werden. Diagnosen sind vielfältig und komplex. Wir Behandler*innen beobachten derzeit eine besonders paradoxe Situation: Einerseits existiert nach wie vor ein extrem großes Stigma rund um das Thema Psychiatrie und psychische Erkrankungen, andererseits wird das Verhalten von Kindern und Jugendlichen überpathologisiert. Man muss sich fragen, was gehört zur Adoleszenz, was gehört zum Erwachsen werden dazu? Dass junge Menschen Wut, Angst und Liebe anders empfinden, liegt auf der Hand – der Umgang mit Emotionen und eine Kontrolle der Impulse wird in dieser Zeit gelernt. Oder sollte gelernt werden. Auch hier spielen Ressourcen und Umgebung eine große Rolle für Kinder und Jugendliche.

Wir beobachten beispielsweise, dass Mobbing grausamer geworden ist. Oftmals werden junge Menschen nicht ernst genommen, aber ihnen wird massive Gewalt von Gleichaltrigen angetan – das darf nicht unterschätzt werden.

“Von meinen Patient*innen geben etwa 60-65 Prozent an, mindestens einmal gemobbt worden zu sein, auf erschreckende Art und Weise. Wichtig wäre es, dass sie sich früh jemandem anvertrauen können und dass ihnen geglaubt wird.”

Was können Eltern, Betreuer*innen und Ärzt*innen tun, wenn der Verdacht einer psychischen Krise oder Erkrankung vorliegt?

Psychische Krisen gilt es ernst zu nehmen. Genau zuzuhören und auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen, ist sehr wichtig. Kinder und Jugendliche sollten sich aber bewusst sein, dass regelmäßiger Schlaf, Motivation, Freude wichtige Indikatoren für ein gesundes Leben sind. Wenn Freud- und Motivationslosigkeit, lang anhaltender Schlafmangel oder Schlafstörungen den Alltag bestimmen, wenn ein extremen Rückzug und Isolation stattfinden, plötzlich Veränderungen im Verhalten, dann sollte das Gespräch gesucht werden. Aber eben auch die richtige Unterstützung aufzusuchen. Grundsätzlich gilt es, wie bei allen Erkrankungen, eine fachärztliche Einschätzung oder Diagnose einzuholen. So kann dann der weitere Behandlungsweg gemeinsam erstellt werden. Aber auch hier sind wir uns sehr bewusst, dass es für Erwachsene ohne (manchmal auch mit) der richtigen Ausbildung und den notwendigen Ressourcen nicht einfach ist. Trotzdem ist es besser, sich über beispielsweise telefonische Angebote beraten zu lassen, anstatt wegzuschauen.

“Ich erlebe eine gewisse Vereinsamung der Kinder und Jugendlichen, denen es nicht gut geht, die aber in erster Linie auf Verständnis hoffen. In unserer Leistungsgesellschaft ist es sehr schwierig, dass es einem einfach mal schlecht geht. Ob eine Phase der Traurigkeit wegen Liebeskummer oder Streit mit dem besten Freund – alles kann eine Belastung darstellen, die man auch gemeinsam aushalten muss, anstatt alles dafür zu tun, dass sie sofort verschwinden.”

Jugendliche haben durch Social Media und den Generationenwechsel eine wesentlich offenere Gesprächsbasis. Psychotherapie und das Wissen rund um verschiedene Krankheitsbilder sind wesentlich höher. Wieso ist es dennoch, notwendig, junge Menschen aufzuklären?

Insbesondere Online lauern die Fallen der Fake-News oder simplifizierten Diagnosen, die fachlich nicht ausreichend sind. Zudem erleben wir auch, dass es nach wie vor enorme Defizite, und dass es Vorurteile beim Thema Psychiatrie und Behandlungsformen, wie etwa eine medikamentöse Therapie, gibt. Viele Menschen haben schon von der Psychotherapie gehört, kennen den stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Abteilung nur aus Horror-Filmen und von ambulanter Behandlung haben sie noch nie etwas gehört.

Was bedeutet „ambulante Versorgung“ und was geschieht dort?

Hier soll gewährleistet werden, dass so gut es geht, der Alltag der Kinder und Jugendlichen in die Behandlung miteinfließt. Die Hauptaufgabe der Ambulatorien liegt in der medizinischen Behandlung und in der Unterstützung bei der persönlichen,sozialen und schulischen bzw. beruflichen Entwicklung. Die zugehörigen Tageskliniken können von Kindern und Jugendlichen als Alternative zu einer stationären Behandlung. Die jungen Patient*innen werden von einem multiprofessionellen Team behandelt, betreut und begleitet: Fachärzt*nnen für Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, Klinische Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Ergotherapeut*innen und Physiotherapeut*innen. Die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Angehörigen sind für die jungen Patient*innen und deren Bezugspersonen sehr wichtig.

Foto: (c) Wirlphoto

Haben Kinder und Jugendliche mit Essstörungen einen so speziellen Behandlungsbedarf?

Grundsätzlich hat natürlich jeder Mensch einen individuellen Behandlungsbedarf. Daher ist auch unser multiprofessioneller Ansatz so wichtig. Wie viele psychische Erkrankungen ist auch die Essstörung im Sinne eines biopsychosozialen Modells zu betrachten. Veranlagungen und Umstände sind entscheidende Faktoren für die Entstehung.

Eine Essstörung ist jedoch eine der schwersten Erkrankungen, die wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) haben, da sie massive körperliche Schäden nach sich zieht bzw. ziehen kann. Wir brauchen hierbei unbedingt die fachärztliche Behandlung und erfahrene Professionist*innen, da die Erkrankung äußerst komplex ist und leicht chronifiziert – im schlimmsten Fall verhungern die Patient*innen. Psychotherapie reicht hier alleine nicht! Zudem braucht es besondere Sensibilität und Wissen, denn im Hintergrund läuft bei den Patient*innen ein Programm ab, das kaum etwas mit dem Gespräch mit dem Gegenüber zu tun hat. 

Wo sehen Sie die aktuellen Herausforderungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Wir haben einen extremen Mangel an Fachärzt*innen. Das hört nicht bei Kinder- und Jugendpsychiater*innen und psychiatrischem Pflegepersonal auf, das betrifft alle Bereiche, die Kinder und Jugendliche mit psychische Problemen umfassen. Etwa Sozialpädagog*innen, soziale Berufe, die Heime und Wohgemeinschaften betreuen, all das sind extrem anspruchsvolle Jobs, die durch den Mangel an Personal und Ressourcen nicht einfacher werden.

“Wenn ein bis zwei Betreuer*innen 8-10 teilweise traumatisierte Jugendliche mit psychischen Problemen betreuen, fällt natürlich die so wichtige Beziehungsarbeit extrem schwer.”

Das macht es noch schwieriger, die sehr vielen Kinder und Jugendlichen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, unterschiedlichen Bedürfnissen durch unterschiedliche Maßnahmen zu unterstützen und behandeln. Denn eigentlich müssten wir alle, die mit den Patient*innen zu tun haben, an einem Tisch sitzen und uns genau anschauen, was für den jungen Menschen passen würde: Medikament, Therapieform, Setting, ob vollstationär, ambulant,…

Der psychosoziale Dienst möchte auf all diese Themen und Forderungen mit der Kampagne #darüberredenwir aufmerksam machen. Was braucht es denn, damit die Menschen eine möglichst gesunde Psyche haben?

Die Entstigmatisierung aller psychischen Erkrankungen und der Behandlung ist eine wichtige Säule. Nur wenn wir tabulos darüber reden können, kann Betroffenen adäquat geholfen werden. Aber es ist auch eine Frage der Verteilung, der Gerechtigkeit, der Vielfalt: Auch im Gesundheitssystem, so gut es in Österreich ist, gibt es Ausschlussmechanismen. Das trifft etwa Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die sich am Land befinden, das betrifft Menschen mit weniger Bildungschancen, Sprachbarrieren usw. Psychische Gesundheit sollte kein Privileg sein, sondern für jeden Menschen eine Selbstverständlichkeit – egal woher er kommt. Kontaktaufnahme bzw. Möglichkeit klären.

Wenn Du Fragen hast, wende dich gerne an die Psychosoziale Information der Psychosozialen Dienste in Wien:

  • 01 4000 53060 – von 08:00 bis 17:00 Uhr täglich

Wenn Du Dich belastet fühlst, nimm die Wiener Sorgenhotline in Anspruch – damit Sorgen nicht zur Krise werden:

  • 01 4000 53000 – von 08:00 bis 20:00 Uhr täglich

In akuten psychiatrischen Notfällen wende Dich an den Psychosozialen Notdienst des PSD-Wien:

  • 01 31330 – rund um die Uhr

Der Artikel mit Dr.in Doris Koubek erschien im Juni 2023 in gekürzter Form in ÄRZTE EXKLUSIV.

Schlafstörungen und psychische Gesundheit

Durchschlafen, schneller Einschlafen – Schlaf beschäftigt uns und bestimmt, wie unser Tag verläuft. Wir haben den Experten Prim. Dr. Sergio Rosales-Rodríguez zu Schlafstörungen und psychischer Gesundheit befragt. Und uns gleich ein paar Tipps geholt. Dr. Rosales-Rodríguez ist Ärztlicher Leiter des Instituts für Psychiatrische Frührehabilitation und des Sozialpsychiatrischen Ambulatorium Floridsdorf.

DRW: Wie hängen Schlaf und Psyche zusammen?

Dr. Rosales-Rodríguez: Schlaf und psychische Erkrankung hängen eng zusammen. Auch in der Diagnose zahlreicher psychischer Erkrankungen spielen Schlafstörungen eine Rolle: Das verdeutlicht den großen Zusammenhang. Bei deliranten Zustandsbildern kommt es beispielsweise zu einer Schlaflosigkeit oder Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus. Bei manischen Zuständen sehen wir ein reduziertes Schlafbedürfnis und bei depressiven Zuständen wiederum sehen wir oft ein Früherwachen.

DRW: Wie viel Schlaf ist zu wenig?

Dr. Rosales-Rodríguez: Bei dieser Frage muss man vorsichtig sein. Die Menschen hören immer „man sollte acht Stunden am Tag schlafen.“. Zum größten Teil kommen diese Aussagen aus Untersuchungen der allgemeinen Population. Leute werden gefragt: „Wie viele Stunden schlafen sie am Tag?“ Die Antworten sind natürlich verschieden und es kommt zu einer bestimmten Bandbreite. Am Ende wird aber ein Durchschnitt errechnet: acht Stunden. Das heißt nicht, dass alles darunter oder darüber krankheitswertig ist, es heißt nur, dass im Durchschnitt die Leute acht Stunden schlafen. Warum erkläre ich das? Weil letztendlich die Gesamtschlafzeit eine große Rolle spielt, wenn diese in Zusammenhang mit dem individuellen Schlafbedürfnis betrachtet wird.

DRW: Was passiert, wenn das Schlafbedürfnis nicht erfüllt wird?

Dr. Rosales-Rodríguez: Wenn tatsächlich eine reduzierte Gesamtschlafzeit bezogen auf das individuelle Schlafbedürfnis seit längerer Zeit besteht – also, wenn eine Person an ihren Bedürfnissen gemessen insgesamt zu wenig schläft – ist mit psychischen und organischen gesundheitlichen Folgen zu rechnen. Der Einfluss von reduzierter Gesamtschlafzeit auf psychische Erkrankungen, aber auch auf das Immunsystem oder endokrine Erkrankungen wie Diabetes ist erwiesen. Ebenfalls kann eine chronisch verkürzte Gesamtschlafzeit zu einer Verkürzung der Lebenszeit führen.

DRW: (Ab) Wann sollte ich mir professionelle Hilfe suchen?

Dr. Rosales-Rodríguez: Professionelle Hilfe sollte jederzeit bekannt und verfügbar sein. Vor allem in Hinblick auf die Überflutung an Informationen, die durch die vielen (digitalen) Medien verursacht wird. Als Laie wird es noch schwieriger, die Richtigkeit von Aussagen zu überprüfen. Daher ist professionelle Hilfe wichtig – auch im Sinne einer primären Prävention. Das heißt, bevor überhaupt Beschwerden auftreten, können Maßnahmen ergriffen werden, um die eigene Gesundheit zu erhalten.

DRW: Wie können Fehlinformationen bezüglich Schlaf schaden?

Dr. Rosales-Rodríguez: Bestimmte Menschen haben für sich gewisse Regeln aufgestellt, die eher Krankheiten begünstigen. Wenn ich zum Beispiel denke: „Der beste Schlaf entsteht vor 19 Uhr“, weil ich das irgendwo gelesen habe, werde ich versuchen, mich früher schlafen zu legen. Höchstwahrscheinlich werde ich aber erst nach ein paar Stunden Liegezeit einschlafen können. Das führt dazu, dass ich mich dann jedes Mal ärgern werde, wenn ich nicht rechtzeitig schlafen kann. Es kommt in weiterer Folge zu einer Anspannung vor dem Schlafengehen, was wiederum die Einschlafzeit verlängern wird, da ich nicht angespannt einschlafen kann. Es entsteht ein Kreislauf, was mit einer Insomnie endet, der durch eine professionelle Psychoedukation rechtzeitig unterbrochen hätte werden können. Natürlich ist professionelle Hilfe zu holen, wenn Schlafstörungen die Lebensqualität, egal auf welcher Ebene, mindern. Optimal wäre es natürlich, sich viel früher Hilfe zu holen.

Tipps für bessere Schlafgewohnheiten:

  • Schlafstätte nur für Schlaf und sexuelle/intime Aktivität nutzen: So kannst du sich selbst konditionieren. Das Bett bedeutet Schlafen, wenn man sich dort hinlegt.  
  • Routine hilft: Versuch so oft es geht zur gleichen Uhrzeit ins Bett zu gehen.
  • Zur Schlafenszeit keine aufputschenden Substanzen konsumieren (Koffein, Alkohol, schwere Mahlzeiten)
  • Aktivierende Aktivitäten (z.B. Sport) ausschließlich unter Tags betreiben: Als große Faustregel könnte man sagen, sei aktiv während des Tages und treibe eher entspannende Aktivitäten in den Abendstunden.
  • Runterkommen: Abends ein Buch lesen oder Hörbuch anhören wirkt entschleunigend und beruhigt.
  • Lüften: Genügend Frischluft im Schlafzimmer hilft nicht nur, besser einzuschlafen, es fördert auch einen erholsameren Schlaf.

Schlaf und Psyche in Zahlen: Eine Studie mit über 25.000 Personen aus ganz Europa stellte 2001 den Zusammenhang zwischen Schlaf und psychischen Erkrankungen fest (Ohayon und Roth). Von den ca. 27% der Befragten, die Schlafstörungen angaben, litt etwas weniger als die Hälfte auch an einer psychischen Erkrankung. Streng medizinisch definiert waren nur 17% der Befragten von einer Schlafstörung betroffen, von diesen litten aber ganze 65% auch an anderen psychischen Erkrankungen.

Mockup der Plakaktkampagne. Auf einer Glas-Auslage sind drei Plakate der Kampagne in unterschiedlichen Farben angebracht.

#darüberredenwir im neuen Gwand!

Mit der neuen Aufbereitung und Zielrichtung der Kampagne #darüberredenwir setzen sich die Psychosozialen Dienste in Wien zum Ziel, vor allem junge Menschen anzusprechen. Faktenbasiertes Wissen wird zielgruppengerecht und niederschwellig bereitgestellt. Zudem sollen psychische Erkrankungen und die Erkrankten selbst in all ihren Facetten Raum geboten werden – denn nach wie vor, sind Schizophrenie, Suchterkrankungen oder Essstörungen mit Vorurteilen behaftet. Mythen und falsche Annahmen kursieren zu dem nach wie vor rund um psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten und Einrichtungen.

„Das Thema psychische Gesundheit hat es in die Mitte der Gesellschaft geschafft – meint man. Doch bei genauerem Hinhören, sehen wir, dass der öffentliche Diskurs nur an der Oberfläche kratzt. #Selfcare und Selbstoptimierung geben uns das Gefühl, jede*r kann es schaffen, aus einer psychischen Krise mit ein bisschen Bewegung und Therapie herauszukommen. Das stimmt allerdings nicht“, erklärt Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht und Drogenfragen der Stadt Wien.  

Neue Plakate, neue Kanäle

Seit Kurzem ist #darüberredewir auch auf TikTok präsent. Mit Videos rund um das Thema Entstigmatisierung, Fakten und Infos rund um Psychiatrie, Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten, sowie Fakten-Checks sollen vor allem jüngere Menschen abgeholt werden. Folgt uns:

Was kommt?

Nach wie vor mangelt es laut Lochner an Wissen rund um Diagnosen, Behandlungsformen und Umgang mit psychischen Erkrankungen. Zudem spiele die Ressourcenfrage auch beim Thema psychische Gesundheit eine wichtige Rolle: „Die aktuellen Krisen – sei es Pandemie, Krieg, Teuerung oder die Klimakatastrophe – treffen uns alle, doch wir sitzen nicht alle im selben Boot. Wir alle befinden uns auf der stürmischen See, doch während manche auf einer Luxusyacht sicher sind, müssen andere auf einem wackeligen Floss gegen die Fluten ankämpfen.“

Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sind die psychischen Problematiken und diagnostizierten Erkrankungen stark gestiegen. Zahlreiche Studien belegen den Anstieg von Suizidgedanken, Angsterkrankungen und Essstörungen. Zudem belegen unter anderem die in den letzten drei Jahren durchgeführten SORA-Studien zur psychosozialen Situation der Wiener*innen, dass bestehende Hilfsangebote von Betroffenen spät oder gar nicht Anspruch genommen werden.

„Wichtig ist, dass junge Menschen über die Behandlungs- und Unterstützungsangebote Bescheid wissen, nicht davor zögern, sich Hilfe zu holen, falls es nötig ist und auch hinschauen, wenn es im Freundeskreis Probleme gibt“, betont Primar Dr. Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien. Mit den aktuellen Sujets will der PSD-Wien wach rütteln, zur Selbstreflexion anregen und alle Facetten der psychischen Gesundheit sichtbar machen.  

2019 starteten die Psychosozialen Dienste in Wien die Kampagne zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen #darüberredenwir. Was als kleine Initiative angesetzt war, fand großen Anklang in der Wiener Bevölkerung. Der Staatspreis in der Kategorie „Digitale Kommunikation“ im Jahr 2020 unterstrich die Wichtigkeit der Kampagne. Auf Facebook und Instagram hat sich eine Community gebildet, die sich austauscht und Erfahrungen teilt. Mit Tipps und faktenbasierten Informationen hilft #darüberredenwir zudem Betroffenen, Erfahrungsexpert*innen und Angehörigen.

Wien Innenstadt

Psychosoziale Gesundheit der Wiener*innen

Die neue SORA Studie ist da!

Über drei Jahre verteilt hat das SORA-Institut Wiener*innen zur Selbsteinschätzung ihres Gesundheitszustandes befragt. Letzte Woche haben wir einige Journalist*innen eingeladen, um diese Bestandsaufnahmen zu besprechen und haben daraus folgende Maßnahmen vorgestellt. Auch nachdem die Einschränkungen der Pandemie weniger geworden sind empfinden viele Wiener*innen immer noch eine Verschlechterung und darauf gilt es zu reagieren. Zudem werden die Herausforderungen, die die Wiener*innen beobachten, stärker und unterschiedlicher. Neben der Pandemie, die 2022 immer noch fast 44% als Belastung empfunden haben, sind es vor allem steigende Lebenskosten und der Krieg in Europa, unter denen die Menschen leiden.

60% der Wiener*innen berichten, dass sie zumindest an einzelnen Tagen Depression, Ängste und Erschöpfung verspürt haben. Die Erschöpfung hat sich – im Gegensatz zu anderen Symptomen – nicht verringert, sondern ist weiter gestiegen. Rund 50% leiden unter Niedergeschlagenheit, unkontrollierbaren Sorgen oder Einsamkeit und 30% geben schwere familiäre Konflikte an – ein Wert, der sich seit 2020 mehr als verdoppelt hat.

Treffend beschreibt Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen die Situation: „Dass alle im selben Boot sitzen, ist faktisch falsch, das zeigt auch die Studie. Wir befinden uns vielleicht alle auf einer rauen See. Dennoch ist es ein Unterschied, ob jemand sich in einer großen Yacht oder in einem Kanu oder Einbaum auf rauer See befindet.“ Denn, vulnerable Gruppen, die schon vor der Pandemie belastet waren, Frauen und junge Menschen sowie Personen, deren ökonomischen Ressourcen sich im unteren Drittel befinden, sind deutlich schwerer betroffen, als andere.

Maßnahmen

Der PSD-Wien reagiert mit dem Ausbau seines Angebots: Um den vielfältigen Themen Platz zu geben, die die Wiener*innen beschäftigen, wird die ursprüngliche Corona-Sorgenhotline zur Sorgenhotline ausgebaut. Hier können alle mit ihren Sorgen täglich anrufen, um mit jemandem über Ängste und Belastungen zu sprechen: 01 4000 53000.

Das Home-Treatment ist als Pilotprojekt der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD-Wien) in Kooperation mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (MedUni Wien/AKH), das erste seiner Art gewesen. In Wien konnten seit dem Beginn im März 2021 54 Kinder behandelt werden. Die Evaluierung bezeugt den Erfolg des Pilotprojektes, welches nun verlängert und vergrößert wird. Im Rahmen des Home-Treatments werden Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen und deren Familien für einen längeren Behandlungszeitraum in ihrem direkten Lebensumfeld – bei sich zu Hause –  betreut. Durch die Arbeit vor Ort wird der Lebensalltag der Kinder und Jugendlichen in die Behandlung miteinbezogen und es kommt zu keinen Abbrüchen von wichtigen sozialen Beziehungen in Familie, Schule oder Betreuungsumfeld.

Besonders wichtig ist jetzt auch die Arbeit der Kampagne #darüberredenwir. Viele Wiener*innen gaben an Bedarf nach Unterstützung von außerhalb zu spüren und nicht alle von ihnen fanden Möglichkeiten Hilfsangebote auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Weiterhin spielt die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen eine Rolle dabei. #darüberreden kämpfte von Anfang an dafür, dass sich niemand für eine Erkrankung schämen sollte. Wir werden psychische Gesundheit weiterhin zum Thema machen!

Armut ist Gefahr für psychische Gesundheit

Finanzielle Armut und psychische Gesundheit stehen in einem engen Zusammenhang. Um Verbesserungen zu erzielen, gilt es an vielen Schrauben zu drehen. Das war das Resümee eines Facebook live Talks von Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien und Pia Zhang, Referentin für Gesundheitspolitik der AK Wien.

Einige psychische Erkrankungen beginnen bereits im juvenilen Alter. Wenn diese nicht behandelt werden, haben sie einen massiven Einfluss auf die Lebensbiographie. Psychische Erkrankungen führen aber oftmals auch im späteren Leben zu einem Verlust des Arbeitsplatzes und finanziellen Einbußen. Gleichzeitig wissen wir, dass das untere Einkommensdrittel deutlich schwerer unter psychischen Belastungen leidet und häufiger erkranken.

Henne-EI-Problem

„Der Zusammenhang zwischen finanzieller Armut und psychischer Gesundheit ist ein bisschen ein Henne-Ei-Problem. Fest steht, dass es einen starken Zusammenhang in beide Richtungen gibt“, sagte Lochner. Außerdem sind nicht alle Menschen gleich betroffen. „Die krisenhaften Situationen der letzten Jahre haben gezeigt, dass jene Menschen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie belastet waren, auch von den Konsequenzen übermäßig belastet sind“, so Lochner.

Unsicherheiten im Berufsleben führen zu Stresssituationen. Aktuell werden diese durch die Teuerung weiter verschärft und verstärken sich mit der prekären Situation am Arbeitsmarkt. „Eine soziale Absicherung, gerade auch für arbeitslose Menschen, die derzeit 55% des letzten Einkommens erhalten, ist notwendig. Eine Anhebung des Arbeitslosengeldes auf zumindest 70 Prozent würde den Arbeitnehmer*innen auch helfen, um wieder Kraft zu tanken“, forderte Pirklbauer.  

Arbeitsplatzgestaltung entscheidend

Neben der besseren finanziellen Absicherung, spielt die Arbeitsplatzgestaltung eine entscheidende Rolle. „Arbeitgeber*innen sind dabei im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht in der Pflicht, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass weniger psychische Belastungen stattfinden“, erläuterte Pirklbauer weiter. Ursachen für psychische Belastungen seien oftmals auf Diskriminierungen und Belästigungen jeglicher Art zurückzuführen. Aber auch Überlastungen durch lange Arbeitszeiten oder schwer planbare Arbeitszeiten bereiten Herausforderungen.

Der aktuelle Fehlzeitenreport zeigt klar: psychische Erkrankungen sind in den letzten Jahrzehnten im Steigen begriffen. Vor allem braucht man bei psychischen Erkrankungen oft länger, bis man sich wieder zutraut in den Beruf einzusteigen. „Und wenn die Mitarbeiter*innen wieder eingestiegen sind, müssen sie oftmals kurze Zeit später nochmals in den Krankenstand, weil sich im Betrieb nichts geändert hat und die belastende Situation weiter bestehen bleibt“, wies Zhang auf eine Herausforderung und die dahinterliegenden Zahlen hin.

Fit2work stärker nützen

Bereits gesetzte Maßnahmen, wie etwa die Wiedereingliederungsteilzeit und fit2work bewerten die Expert*innen positiv. „Allerdings wird es immer noch viel zu wenig genutzt. „Nur 17 Prozent der Menschen in Langzeitkrankenständen nehmen dies in Anspruch. Überhaupt nur ein Prozent der Unternehmen lässt sich beraten“, so Zhang. Dabei sei ein stärkerer Fokus auf psychische Erkrankungen bei den Gesundheitsmaßnahmen auch für Betriebe und den Staat von Vorteil, da dadurch massiv Kosten eingespart werden.  

Ausbilden, ausbilden, ausbilden

„In der heutigen Arbeitswelt sehen wir einerseits Angst vor verschlechternden Arbeitsbedingungen, etwa durch mehr Arbeit bei gleichbleibendem Gehalt. Andererseits brechen, gerade bei vielen jüngeren Arbeitnehmer*innen, Lebenskonzepte zusammen, die gelautet haben: gute Ausbildung führt automatisch zu gutem Auskommen. Sie sehen, dass das nicht funktionieren wird. Dem müssen wir Rechnung tragen“, betonte Lochner, der vor allem drei Dinge forderte: erstens ausbilden, ausbilden, ausbilden. Das gelte für Ärzt*innen, Pflegepersonal und Sozialpädagog*innen. Hürden müssen abgebaut werden, etwa beim Medizinstudium. Zweitens müssen Behandlungssysteme näher an die Lebensrealität der Patient*innen angepasst werden, das heißt niederschwellig, leicht erreichbar und mit dem Beruf vereinbar. Selbiges gälte, als dritter Punkt, für das Finanzierungssystem. Auch das muss sich stärker am Bedarf der Patient*innen orientieren.    

Bewusstsein für psychische Erkrankungen erhöhen

Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen sei auch in den Betrieben deutlich ausbaufähig, konstatierte Pirklbauer. Außerdem brauche es Arbeitsbedingungen, die nicht psychisch krank machen. Im Falle einer Erkrankung ist es notwendig, diese rasch zu erkennen und Expertise zu holen. Und sollten Erkrankungen zu Arbeitsausfällen führen, müssen Chancen gegeben sein, wieder zurückzukehren.

Für Zhang ist der kostenlose, niederschwellige Zugang zu Gesundheitsleistungen eine Grundforderung. Und dies in einem ausreichenden Ausmaß. Auch wenn das Angebot durch die ÖGK kürzlich erhöht wurde, sei der Bedarf noch lange nicht gedeckt. „Eine lange Wartezeit auf eine Behandlung hat eine massive Auswirkung auf die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Menschen“, warnte sie und sprach auch eine weitere Risikogruppe in diesem Zusammenhang an: pflegende Angehörige, deren Aufgabe zu einer extrem starken psychischen Belastung führe.

Meine Depression namens Karl

Wolfgang Eicher ist Schriftsteller und Mitglied beim Verein Lichterkette. In seinen Texten setzt er sich mit psychischer Gesundheit und seiner eigenen bipolaren affektiven Störung auseinander.  

Der Morgen graut. Ich wache auf. Das fahle Licht der Wirklichkeit greift wie ein Monster nach mir. Gestern war nichts. Heute wird auch nichts sein. Morgen? Vielleicht ja morgen… Ich drehe mich auf die andere Seite, um die Wand anzustarren. Die Wand ist weiß. Vereinzelt kleben vergilbte Fotos herum, die eine Vergangenheit zeigen, die ich nicht verstehe. Eigentlich gibt es nur mehr diese Gegenwart, die in alle Zukunft reicht. Ich drehe mich wieder auf die andere Seite. Das Fenster ist fest verschlossen. Dennoch dringt das Licht des neuen Tages herein. Es ist furchtbar. Das kleine bisschen Dunkelheit, das mich durch die Nacht gebracht hat, weicht dem Entsetzen der neuen Situation, die immer gleich ist. Der Tag fordert. Von der Decke tropft ein Druck, der langsam und nachhaltig in meinem Kopf versickert. Er lähmt mich.

Ich habe meine Depression Karl genannt. Karl ist ein ständiger Begleiter meines Lebens. Ich kenne ihn gut. Seine Zähne sind aus Blei und grinsen mich an. Sein Kopf ist rund und rot wie die untergehende Sonne. Manchmal öffnen sich seine Augen, die wie Knöpfe schwarz in meine Seele eindringen. Auch er kennt mich gut. Wir sind alte Bekannte.

Nicht immer begleitet mich Karl durch die Wochen im Bett, Die Erinnerung an bessere Zeiten ist jedoch genauso weg wie das Vertrauen auf die Veränderung. Natürlich möchte ich Karl in die Wüste schicken. Er geht aber nicht hin. Wenn er da ist, ist er da. Irgendwie musste ich lernen, das zu akzeptieren, um weiter leben zu können.

Aus der Stille der schweißnassem Federn blicke ich in das Nichts meines Zimmers, das aus wertlosen Dingen besteht, die wahllos herumliegen. Karl sitzt auf dem Kasten und lächelt mich an. Er hat es sich sehr gemütlich eingerichtet bei mir. Auch ich liege noch gemütlich im Bett. Aber ich bin nicht mehr müde. Das heißt, ich kann nicht länger schlafen. Es ist jetzt unmöglich, meiner Situation zu entfliehen, indem ich einfach die Augen schließe. Daher starre ich die Decke an. Ich habe keine Gedanken. Ich habe auch keine Gefühle. Langsam steigen Angst und Panik in mir empor.

Der Doktor hat gesagt, ich muss jeden Tag raus. Das sei eine therapeutische Notwendigkeit. Eine Stunde, oder wenigstens eine halbe langsam spazieren gehen. Er meint damit nicht Sport, er ist Realist. Einfach nur Sonne und frische Luft. Am besten wäre es natürlich in der Natur, im Wald oder auf einer Wiese.

Das Draußen jedoch liegt hinter einer hohen Mauer, die von Karl bewacht wird. Irgendwo existiert ein Loch. Ich finde es aber nicht. Nur wenn es zur Therapie geht, zeigt mir Karl das Loch. In der Therapie geht es um mein Zusammenleben mit Karl. Es wäre falsch, gegen ihn zu kämpfen, meint die Therapie. Was aber dann? Die Therapie weiß darauf viel zu sagen. Es kommt jedoch nicht mehr an. Es ist zu anstrengend, der Therapie zu folgen. Überhaupt ist alles so anstrengend.

Eines ist in meinem Kopf verblieben. Es ist ein einfacher Satz. Karl wird wieder verschwinden. Die Depression wird enden! Irgendwann. Das haben mir viele Menschen gesagt. Außerdem hat das meine Erfahrung gesagt. Bisher ist jede Depression auch wieder zu Ende gegangen! Die Vernunft in mir sagt mir das immer wieder. Ich bete es. Ich kann es jedoch nicht fühlen. Die Präsenz von Karl füllt mich vollkommen aus und verhindert die Gedanken an den Tag, an dem er sein Grinsen verliert. Dieser Tag wird dennoch kommen.

“Aber hey: Ich bin die GÖTTIN DER WELT …”

Nicole ist 38 Jahre alt und lebt in Wien. Sie engagiert sich in verschiedenen Kontexten für die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen. Sie selbst ist Erfahrungsexpertin und betreibt den Podcast „Crazy Turn – Ich bin bipolar“. Sie hat mit uns über ihr Leben und ihre Krankheit gesprochen.

Wann hast du deine Diagnose erhalten? 

Ich hatte mit 18 Jahren meine erste sehr schwergradige Depression und die darauffolgende Manie mit 19 Jahren. Also habe ich 2001 meine Diagnose zu Bipolarität bekommen.

Warst du davor in Behandlung?

Nein gar nicht.

Was ist Borderline? Wie fühlt sich das an? 

Ich habe nur latente Borderline-Störung und instabile Persönlichkeitsstörung. Meine Hauptdiagnose ist jedoch die Bipolarität. Ich bin also manisch depressiv. 

Wie würdest du die Erkrankung beschreiben?

Sehr anstrengend und nerven- und kräftezerrend, aber auch durchaus interessant und sogar abwechslungsreich.

Was hat sich dadurch verändert? Wie war dein Leben davor?

Mein Leben war ganz “normal”. Ich war eine aufgeweckte, lebensfrohe, soziale und kontaktfreudige Nicky 😉 Deshalb war die erste schwere Depression mit 18 Jahren so ein großer Schock für mich.

Wie fühlt sich eine Manie an? 

“großartig” … das ist natürlich die verzerrte Wahrnehmung, die ich während einer manischen Zeit habe. Alles geht. Ich bin schön produktiv, ideenreich mit vielen Einfällen, mit viel Energie und Tatendrang.

In Wahrheit ist es Raubbau am eigenen Körper … durch Schlafentzug, ungesunde Gewohnheiten und Risikoverhalten – bei mir beispielsweise durch immenses Geld-Ausgeben, obwohl ich keines habe, was zu Schulden bei kaum einem Einkommen führt. Ich bin besserwisserisch, verbal aggressiv, streitsüchtig, stur, unreflektiert und unbelehrbar. Ich bin für niemanden “erreichbar”, nicht einmal für meine Familie oder sogar Therapeuten. 

Aber hey: Ich bin die GÖTTIN DER WELT!

Top motiviert zu sein, klingt im ersten Moment doch recht gut: Warum sollte das behandelt werden?

Weil die Manie Leben und Existenzen zerstört!

Vor welchen Herausforderungen stehst du im Alltag?

Es ist wichtige, eine Tagesstruktur zu halten, vor allem in der Depression. In der Manie überfordert mich mein Tatendrang. Mein Kalender ist übervoll und ich kann gar nicht alles einhalten, was ich mir vornehme. Und konkret seit August 2021 gibt es für mich ein Novum: RAPID CYCLING … also alle 3-4 Wochen eine andere Episode. Das ist sehr kräftezerrend und nicht einmal mein Psychiater vom PSD-Wien kann mich medikamentös adäquat einstellen. Einzig positives am Rapid Cycling ist, dass die kurven flacher geworden sind. Es sind also alle Episoden nicht mehr so intensiv ausgeprägt sind. 

Was hilft dir am meisten? 

Stabile Beziehungen zu Freund:innen und Familie. Und meine Tagesstruktur.


Mehr über Nicole’s Podcast erfahrt ihr hier:

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Instagram: @crazyturn.ichbinbipolar

Facebook: Crazy turn – ich bin bipolar @fb

Meine Borderline-Persönlichkeitsstörung

In diesem Text erzählt Irene über ihre persönlichen Erfahrungen mit psychiatrischen Erkrankungen, ihren Einsatz gegen Stigmatisierung und ihre Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Ich erinnere mich daran, im Alter von drei Jahren süchtig nach Selbstverletzungen geworden zu sein. Für dieses Verhalten erfand ich sogar einen eigenen Namen. Bald machte ich es nur noch heimlich. Das Wort für meine Selbstverletzung war ebenso geheim wie die Parallelwelt, die in meinem Kopf entstand. Niemand bemerkte, dass ich mich in diese Welt hinein flüchtete, da mich die reale Welt überforderte. Die Geheimhaltung und die Idealisierung meiner Parallelwelt, sowie das Funktionieren in der realen Welt setzten mich unter enormen Hochdruck und unter Hochspannung. Mein Leben war von Extremen geprägt. Nach meiner Matura riss es mich zwischen den verschiedensten Berufswünschen hin und her, vor und zurück, wie auf einer Achterbahnfahrt. Ich probierte vieles aus und strengte mich an. Mit Anfang zwanzig befand ich mich in meiner ersten Psychotherapie, probierte jedoch weiterhin eisern zu funktionieren und der Norm zu entsprechen. Im Alter von 24 Jahren schloss ich den Fachhochschul-Studiengang „Gesundheitsmanagement“ ab. Immer wieder bekam meine perfekte, reale Welt Risse, als ich mich zuhause mit scharfen Gegenständen heimlich selbst verletzte, um für den Druck und für die Anspannung ein Ventil zu suchen und um meinen Körper zu spüren. Versuchte weiter zu machen, scheiterte, Psychosomatik-Aufenthalt, stand wieder auf, suchte weiter, gab nicht auf, probierte, ich war misstrauisch und paranoid. Psychiatrie-Aufenthalte. Eine „Gestörtenkarriere“ laut einer Psychotherapeutin, die mich nach einer Probestunde ablehnte. Probierte wieder alles. Konnte nicht mehr. Medikamentenüberdosis.

Bis mir der Konsiliarpsychiater eines Wiener Spitals nach dieser Medikamentenintoxikation das Sozialpsychiatrische Ambulatorium des PSD-Wien empfahl, welches für meinen Bezirk zuständig ist. Ich erwartete nichts außer schon wieder, wie zig mal zuvor, meine Geschichte einem fremden Arzt erzählen zu müssen, um danach wieder weg geschickt zu werden. Doch die Psychiaterin des PSD-Wien fing mich im Jahr 2011 auf und ist heute noch immer für mich zuständig.

Seit mehreren Jahren stelle ich als Teilnehmerin in einer Tagesstruktur für Menschen mit psychischen Erkrankungen Schmuck her. Das entspricht meinem Belastbarkeitsniveau. In meiner Abteilung habe ich die Rolle der Teilnehmer-Vertreterin inne, was mir ebenso wie das Schmuck-Herstellen Spaß macht, da ich ein kreativer, neutraler, sensibler und lösungsorientierter Mensch bin. In meiner Freizeit spiele ich Querflöte und ich schreibe.

Natürlich gibt es im Rahmen meiner Borderline-Persönlichkeitsstörung immer wieder Krisen. Im Frühling 2022 durchlebte ich einen neuerlichen Tiefpunkt. Ich wurde ohne eigenes Verlangen aufgrund von Suizidgedanken auf der Akutstation einer psychiatrischen Abteilung untergebracht. Nach diesem Krankenhausaufenthalt schaffte ich es aufgrund fehlender Konzentrationsfähigkeit und mangelnder Belastbarkeit nicht mehr, in meine Tagesstruktur einzusteigen. Meine Psychiaterin verhalf mir dazu, vorübergehend an Ergotherapien, Musiktherapien und anderen Angeboten in einem Therapeutischen Tageszentrum des PSD-Wien teilzunnehmen. Durch diese Therapien, durch Gespräche mit ihr, Medikamentenumstellung, sowie durch die Hilfe meiner Psychologin und Psychotherapeutin gelang es mir, wieder stabiler zu werden und in die Tagesstruktur für Menschen mit psychischen Erkrankungen zurückzukehren. Alle halfen zusammen. Da waren dann wieder die geschulten Betreuer*innen und die anderen Teilnehmer*innen und ich konnte nach dieser Krise „weiter surfen“. Ich weiß nicht, woher meine Psychotherapeutin diese Metapher hat, aber sie sagt, mein Weg sei wie das Surfen auf einem Surfbrett. Mal gehen die Wellen rauf, mal runter, und wenn ich ins Wasser falle, gibt es Rettungsboote und Rettungsringe, die mich auffangen. Bis ich es wieder schaffe, auf das Surfbrett aufzusteigen und weiter zu surfen. Danke auch an meine liebe Familie!

Als „Gestörtenkarriere“ lasse ich mir meinen eigenen Weg nie wieder abstempeln!

Vielmehr setze ich mich für eine Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten ein. Eine psychiatrische Erkrankung ist kein Grund, sich zu schämen. Und sie ist auch kein Grund für andere Menschen, einen Betroffenen zu stigmatisieren oder zu diskriminieren. Ich wünsche mir, mit diesem Text auf Verständnis und auf Toleranz zu stoßen. Und ich habe die Hoffnung, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht.

#NeueMännlichkeiten für die Psyche

#NeueMännlichkeiten für die Psyche – Männergesundheit im Fokus

Es ist Movember – das Monat der Männergesundheit! Das werden wir nutzen, um den Fragen nach heutigen Männlichkeit(en) auf den Grund zu gehen. Was können Männer, was dürfen sie und was sollen sie? Was bedeutet „Mann sein“ im 21. Jahrhundert? Und warum sind diese Fragen relevant für die Gesundheit?

Männer und Gesundheit

Der Monat November dient dazu, das Bewusstsein rund um die Gesundheit von Männern zu fördern. Das betrifft natürlich auch die psychische Gesundheit. Egal ob anhaltende Knieschmerzen, eine gebrochene Hand oder psychische Krisen – professionelle Hilfe, frühmöglichste Behandlung und Achtsamkeit sind in allen Fällen notwendig. 2004 erschien der erste Österreichische Männergesundheitsbericht mit besonderer Berücksichtigung der Männergesundheitsvorsorge. Hier zeigte sich, dass sich Männer, statistisch gesehen, im Durchschnitt gesünder einschätzen als sie sind.

Darin steht auch:

„Bei Männern dürfte es der gegenwärtigen Rollenerwartung entsprechen, weniger sorgsam mit dem eigenen Körper zu sein, als Frauen.”

1. Österreichischer Männergesundheitsbericht

Die Folge davon: 

  • Männer neigen beruflich und in der Freizeit zur Überbeanspruchung ihres Körpers und bemerken Probleme später als Frauen, die regelmäßig einen Frauenarzt konsultieren
  • Bei Männern wird erst in einem höheren Lebensalter die Notwendigkeit der regelmäßigen Untersuchung durch einen Urologen evident. 
  • Selbst wenn Männer im höheren Lebensalter um die Notwendigkeit von Vorsorgeuntersuchungen Bescheid wissen, nehmen sie diese meist erst in Anspruch, wenn eine deutliche Symptomatik aufgetreten ist. 

Rollenbilder und Männlichkeit

Bereits der vor mehr als 15 Jahren erschienene Bericht stellte fest, dass “Rollenerwartungen” von und an Männer ihre Gesundheit beeinträchtigt. Auch andere Rollenklischees hindern Burschen und Männer daran, die Hilfe in Anspruch zu nehmen, die sie brauchen: “Männer reden nicht über ihre Gefühle”, “Männer weinen nicht”, usw.. Das zeigt sich auch beim Thema psychische Erkrankungen. Denn einerseits ist das Aufsuchen von Unterstützung schwieriger, andererseits sind die Symptome etwa bei einer Depression andere als bei Frauen. Depressive Symptome sind bei Männern eher Aggression, Gereiztheit oder exzessiver Konsum. 

Das Bild von Männlichkeit ist geprägt von Schlagwörtern wie Stärke, Kraft, Durchsetzungsvermögen und Dominanz. Dieses Bild schadet nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem einzelnen Mann. Daher wollen wir uns im Movember mit neuen Perspektiven und Ansätzen beschäftigen. 

Quellen: