„Ohne Worte“: Siegerinnenbeitrag Stephan-Rudas-Preis in der Kategorie Rundfunk

„Ohne Worte“, ein Beitrag von Tiba Marchetti, der in der ORF Sendung „Am Schauplatz“ ausgestrahlt wurde, beschäftigt sich mit der Volkskrankheit Demenz.

Obwohl rund 130.000 Menschen in Österreich aktuell an Demenz leiden und die Zahlen in den kommenden Jahren deutlich ansteigen werden, ist es immer noch ein Tabuthema. Viele Betroffene haben Angst und schämen sich, sich die Krankheit einzugestehen. Tiba Marchetti sprach mit Betroffenen und deren Angehörigen sowie mit Betreuungspersonen in verschiedenen Einrichtungen, etwa einem Demenzdorf in Deutschland oder einer Pflegeeinrichtung in Wien.

Herausfordernde Situation
Demenz ist eine herausfordernde Situation. Für die Betroffenen selbst, aber auch für das Umfeld. „Es ist traurig zu sehen, wie der Mensch, den man kennt, immer weniger wird“, so ein Angehöriger. „Eine solche Krankheit beeinflusst das gesamte Leben, für alle im Umfeld“, sagt ein weiterer. Betroffene haben das Gefühl, dass „ihnen die Zahlen davonlaufen und Gedanken verloren gehen.“ Aber, davon sprechen viele Angehörige in dem Beitrag: es entwickelt sich eine neue Form der Liebe. Eine Liebe, in der Wertschätzung einen immer größeren Stellenwert einnimmt.

Professionelle Hilfe holen
Für Betreuungspersonen stellen sich eine Vielzahl von Herausforderungen. Für Pflegefachkräfte etwa gehe es vor allem darum, Menschen mit einer Demenzerkrankung dort abzuholen, wo sie gerade sind. Und klar ist auch: je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser und desto länger ist es möglich, die Strukturen des alltäglichen Lebens aufrecht zu erhalten. „Jeder von uns hat schon einmal seine Schlüssel vergessen oder ein Wort ist uns nicht eingefallen. Wenn dies allerdings häufig auftritt und zu einer Belastung im Alltag wird, sollte man dringend professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, um die Situation abzuklären“, raten die Ärzt*innen in dem Beitrag.

(C) ORF/Am Schauplatz

„Als Betroffener ist es wichtig, dass man mir das Gefühl gibt, ich bin nicht allein. Also ich bin nicht der einzige, der das hat“, erklärt ein Interviewter.

Dass man darüber spricht und es nicht geheim hält, ist das wichtigste. Es ist nicht unangenehm. Im Alter kann das jedem passieren.

Betroffene in „Ohne Wort“: Am Schauplatz/ORF

Gesunder Lebensstil und Freundschaft
Ein gesunder Lebensstil kann dazu beitragen, dass Demenz später auftritt. Entscheidend seien aber auch Freundschaften. Sowohl im Vorfeld aber auch, wenn die Krankheit bereits ausgebrochen ist, betonen die Ärzt*innen.

„Die kranken Kinder von Moria“ Siegerinnenbeitrag Stephan-Rudas-Preis in der Kategorie Print

Im Flüchtlingslager auf Lesbos grassiert unter Kindern eine sonderbare Krankheit. Silke Weber hat sich in ihrem in der „Zeit“ erschienenen Beitrag mit einem Krankheitsbild, der fast ausschließlich junge Flüchtlinge betrifft, auseinandergesetzt.

Für rund 3.000 Menschen ist das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos angelegt. Als Durchgangslager konzipiert, in dem Erstregistrierungen der Flüchtlinge organisiert und durchgeführt werden sollen, platzt es immer mehr aus allen Nähten. Die griechischen Behörden sind mit der Situation überfordert. Zum Zeitpunkt des Berichts lebten rund 20.000 Menschen in Moria, darunter etwa 6.000 Kinder. Viele von ihnen bereits viele Monate in einer an ein Slum erinnernden Zeltstadt.

Apathie
Immer mehr Kinder fallen in Apathie. Sie geben Sprechen, Bewegen und Essen auf. Mediziner gehen von einem bestimmten Krankheitsbild aus, wenn sich die Aktivitäten in zumindest drei der sechs Bereiche deutlich verringern:  Sprechen, Essen, Mobilität, Sozialleben, Körperpflege und -hygiene, Ansprache auf Fürsorge- und Ermutigungsmaßnahmen. Der Zustand, der meist schrittweise beginnt, kann bis zu einem Starrezustand führen.

Die siebenjährige Nazanin lächelt überhaupt nicht mehr. Sie malt auch nicht mehr, spricht nicht mehr, und das Essen hat sie fast aufgegeben. Nazanin hockt auf dem Boden der dunklen Hütte, ein Bett gibt es nicht, und starrt ins Leere. Es ist, als würde sie durch uns hindurchgucken, sagt die Mutter.

Silke Weber, Die Kranken von Moria In: Die Zeit

Selbstaufgabe-Syndrom
Erste Fälle sind aus den 1990er Jahren in Schweden bekannt, als die Symptome bei vier Kindern festgestellt wurden, deren Familien im Balkankrieg geflohen waren. Damals nannte man die Krankheit Uppgivenhetssyndrom, also Selbstaufgabe Syndrom. 2014 wurde das Syndrom unter diesem Namen in das schwedische Register der psychischen Erkrankungen aufgenommen. Anfang des 21. Jahrhunderts häuften sich in Schweden die Fälle. 2004 waren es bereits 182. Dem schwedischen Neurowissenschaftler Karl Sallin sind bis zum heutigen Tag in Schweden rund 1.000 Fälle bekannt. Anfängliche Vorwürfe, die Kinder würden versuchen, Aufmerksamkeit zu erlangen und einen positiven Asylstatus zu erhalten oder sogar Vorwürfe an Eltern, sie würden Kinder absichtlich vergiften, konnten als Fake-News identifiziert werden.

Ein neunjähriges Mädchen aus Afghanistan sucht Schutz in einem Zelt im Lager Moria auf Lesbos (C) Marie Dorigny/M.Y.O.P./laif

International gibt es bis heute keinen eindeutigen Begriff: Resignation Syndrome (RS), Pervasive Refusal Syndrome (PRS), depressive Devitalisierung (DD), Traumatic Withdrawal Syndrome (TWS), Giving-up-Syndrome oder einfach apathische Flüchtlingskinder sind gebräuchliche Bezeichnungen.

Neben Schweden, haben sich dieselben Krankheitssymptome auch auf der Insel Nauru gezeigt, wo Australien ein Auffanglager für Flüchtlinge errichtet hat. Mittlerweile sind dort – nach Druck der Zivilgesellschaft – keine Kinder mehr untergebracht. Auf Lesbos leben aber bis heute Kinder in Apathie.

Hier der gesamt Artikel:

medizinische Waage

„Haben Essstörungen ein Geschlecht“ – Siegerinnenbeitrag Stephan-Rudas-Preis in der Kategorie online

Magdalena Grunt setzt sich in ihrem auf Youtube zu sehenden Beitrag mit Vorurteilen gegenüber Männern mit Essstörungen auseinander.

Sensibel wird das Vorurteil, Essstörungen seien eine typische “Frauenkrankheit” aufgebrochen, um auch erkrankte Männer sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, sondern auch darum, Geschlechterklischees zu enttarnen.  Mit dem Videobeitrag möchte Magdalena Grunt Stigmatisierung entgegenwirken, mehr Bewusstsein für die Erkrankung schaffen, dazu ermutigen, offen darüber zu sprechen und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.

Darüber zu reden hilft

„Am meisten hat mir geholfen, als ich begonnen habe, darüber zu reden“, sagt der von Grunt portraitierte Musiker Tino Romana in der Reportage. Schon in der Volksschule habe er Mobbing erlitten, fehlende Bezugspersonen kompensierte er mit Essen. „Das Essen wurde zu meinem besten Freund, zu meiner Bezugsperson“, so Tino. In der Schule wurde er von den anderen Kindern auf Grund seines relativ hohen Gewichts ausgeschlossen und aufgezogen. Von Erwachsenen fühlte er sich nicht ernst genommen. Als der Leidendruck später zu groß wurde, beschloss er gar nicht mehr zu essen. Schnell hat er an Gewicht verloren, was zur Magersucht führte. Auch Mediziner*innen, die er aufgesucht hat, haben sich meist mit äußerlichen Symptomen auseinandergesetzt und sind selten auf die Psyche eingegangen, erzählt Tino.

„Wenn Frauen über Essstörungen sprechen, ist das immer ein sehr, sehr ernstes Problem. Wenn Männer darüber sprechen heißt es meist, iss mehr oder geh ins Fitnesscenter, um zuzunehmen‘.

Tino Romana in: „Haben Essstörungen ein Geschlecht“

Verschiedene Ursachen

Bei den Gründen für eine Essstörung gäbe es grundsätzlich kaum einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, erläutert die Systemische Familientherapeutin Gudrun Stempkowski. „Es ist multifaktoriell und hat mit verschiedenen Ursachen zu tun. Nach diesen Ursachen ist zu suchen, denn nur das Essverhalten zu ändern, wird die Essstörung nicht ändern.“ Immer noch seien Essstörungen ein Tabuthema, gerade unter Männern. Es herrscht immer noch ein falscher Ansatz vor, meint Tino. „Es ist keine Schwäche, wenn man über seine Schwäche redet. Im Gegenteil, man zeigt Stärke, wenn man über seine Probleme redet.“

Statistik

Statistiken zeigen einen deutlichen Anstieg der Fälle von Essstörungen bei Männern und hier vor allem bei sehr jungen. Zwischen 2008 und 2018 steig die Zahl der jungen Männer zwischen 12 und 17 Jahren um 60 Prozent. Mittlerweile machen Männer ein Viertel aller Fälle on Essstörungen aus. Zehn Jahre davor war es noch ein Fünftel.

Über Magdalena Grunt

Die 1999 in Wien geborene Journalistin Magdalena Grunt ist Mitbegründerin des journalistischen Kollektivs VORLAUT, das Politdiskurse und soziale Missstände aus einem intersektional-feministischen Blickwinkel betrachtet.

Das Video

Der Beitrag kann auf Youtube gesehen werden.

World Mental Health Day: „Reden ist die beste Form, um Stigma hintanzustellen“

Der 30. World Mental Health Day der WHO am 10. Oktober stand unter dem Motto: „Reden hebt die Stimmung – Seelisch gesund in unserer Gesellschaft“. Der Chefarzt der Psychosozialen Dienst in Wien, Dr. Georg Psota, sprach bei einer Veranstaltung im 5. Bezirk in Wien über die Bedeutung der psychosozialen Gesundheit und Wege zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen.

„Rund ein Drittel bis ein Viertel der Bevölkerung in unseren Breiten leidet einmal pro Jahr an psychischen Problemen. Die Verläufe sind, wie bei jeder somatischen Krankheit auch, leicht bis schwer bzw. akut bis chronisch. Nachdem nicht immer dasselbe Drittel von einer Erkrankung betroffen ist, kann man sich leicht ausrechnen, dass im Verlauf eines Lebens, fast jeder Mensch mit psychosozialen Herausforderungen zu kämpfen hat“, skizzierte Dr. Psota die dramatische Situation.

Dr. Georg Psota bei der Veranstaltung zum World Mental Health Day (Copyright: PSD-Wien)

Freundschaft erhält die Gesundheit
„Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen: Nicht rauchen natürlich, geringer Alkoholkonsum und viel Bewegung. Der wichtigste Faktor aber um die Gesundheit zu erhalten, und das zeigen eine Vielzahl von Studien, ist die Pflege von Freundschaften. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen, das von Kommunikation abhängig ist“, so Psota.

Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit!

Dr. Georg Psota

Hilfe in Anspruch nehmen
Um der immer noch vorherrschenden Stigmatisierung psychischer Erkrankungen entgegenzutreten, empfiehlt Dr. Psota das Reden. „Reden ist die beste Form, um das Stigma hintanzuhalten.“ Dies gelte für Betroffene, die sich so schnell wie möglich Hilfe holen sollen und nicht aus Angst lange zuwarten dürfen. „Es kann nicht sein, dass man monatelang nicht schlafen kann, ständig abnimmt und andere Symptome aufweist, bevor man Hilfe in Anspruch nimmt. Man darf sich davor nicht scheuen“, warnt Dr. Psota. Ähnliches gilt auch für die Umgebung, Familie und Freunde. „Sprechen sie das Problem an, wenn sie sich Sorgen machen“, appelliert er.
„Meine Hoffnung ist es, dass wir bald gemeinsam eine große Geschichte erzählen: die Geschichte von der Psyche, die hohen Risiken ausgesetzt ist“, so Dr. Psota.

World Mental Health Day
Die Veranstaltung World Mental Health Day fand auf Einladung von Onesoc im Creative Cluster im 5. Wiener Gemeindebezirk statt. Neben Dr. Psota sprachen auch Bezirksrätin und Vorsitzende der Kommission für Gesundheit, Soziales und Prävention, Mag.a Katharina Ranz, die Beraterin, Coach und Expertin für mentale Fitness und Verhaltensveränderung, Eva Gruber, die Fachbereichsleiterin Selbsthilfe bei pro mente Wien, Christine Reinhardt und der CEO von The Impressive Company, Nikodemus Wagner.

Stephan-Rudas-Preisträgerinnen 2022 stehen fest

Magdalena Grunt, Tiba Marchetti und Silke Weber erhielten Auszeichnung für fundierte Berichterstattung über psychische Erkrankungen.

Mit ihrer Dokumentation „Haben Essstörungen ein Geschlecht“ gewann Magdalena Grunt mit ihrem Team des journalistischen Kollektivs VORLAUT in der Kategorie „Online“. Tiba Marchetti erhielt den Preis in der Kategorie „Rundfunk/TV“ mit der in der Sendung „Am Schauplatz“ (ORF) ausgestrahlten Reportage “Ohne Worte”. In der Kategorie „Print“ überzeugte Silke Weber mit dem in der „Zeit“ veröffentlichten Text „Die kranken Kinder von Moria“ die Fachjury. Die preisgekrönten Journalistinnen erhielten ihre Auszeichnungen im Rahmen des Tages der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus am 3. Oktober.

„Der Preis für fundierte Berichterstattung über psychische Erkrankungen wurde nun zum fünften Mal verliehen. Wir freuen uns, dass die Zahl der Einreichungen immer höher wird und dies auch mit einer sehr hohen Qualität der Beiträge einhergeht“, sagte der Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner, bei der Verleihung. „Tabus, Scham und Verdrängung schaden ganz besonders, wenn es um psychische Störungen und Erkrankungen geht. Der Stephan-Rudas-Preis ist ein wichtiger Beitrag für einen vorurteilsfreien und unbelasteten Zugang zu Vorbeugung und Behandlung“, betonte auch Dr. Michael Binder, medizinischer Direktor des Wiener Gesundheitsverbundes.

Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner, bei der Verleihung des Stephan-Rudas-Preises 2022 (Copyright: Barbara Wirl)

Journalist*innen spielen in der Vermittlung von faktenbasiertem Wissen zu psychosozialen Erkrankungen eine entscheidende Rolle. Sie können durch die Darstellung von Erfahrungsexpert*innen und einer bewussten Sprache der Stigmatisierung entgegentreten.

Ewald Lochner,Koordinator für Psychiatrie, Sucht – und Drogenfragen der Stadt Wien, Ewald Lochner

Die Siegerinnen

  • Magdalena Grunt: „Haben Essstörungen ein Gesicht“
    Die 1999 in Wien geborene Journalistin Magdalena Grunt ist Mitbegründerin des journalistischen Kollektivs VORLAUT, das Politdiskurse und soziale Missstände aus einem intersektional-feministischen Blickwinkel betrachtet.Der im März 2022 auf Youtube erschienene Beitrag “Haben Essstörungen ein Geschlecht” setzt sich mit Vorurteilen gegenüber Männern mit Essstörungen auseinander. Sensibel wird Essstörungen als typische “Frauenkrankheit” aufgebrochen, um auch erkrankte Männer sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen, sondern auch darum, Geschlechterklischees zu enttarnen. . Mit dem Videobeitrag möchte Magdalena Grunt Stigmatisierung entgegenwirken, mehr Bewusstsein für die Erkrankung schaffen, dazu ermutigen, offen darüber zu sprechen und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.
  • Tiba Marchetti: „Ohne Worte“
    Tiba Marchettis ist Redakteurin der ORF Sendung „Am Schauplatz“. Als solche hat sie sich in der Reportage „Ohne Worte“ mit der Volkskrankheit Demenz auseinandergesetzt. Sie hat dafür Betroffene und Angehörige besucht und sich auch verschiedene Einrichtungen angesehen – vom Demenzdorf in Deutschland bis zum Pflegewohnheim in Wien.
    Sie thematisiert dabei eine Krankheit, über die nicht gerne geredet wird – obwohl etwa 140.000 Menschen in Österreich betroffen sind und sich die Zahl in den kommenden Jahrzehnten zumindest verdoppeln wird. Sie ging unter anderem den Fragen nach, wie diese versteckte Volkskrankheit verläuft, wie viele Jahre man damit leben kann und zeigt uns Zuschauer*innen, wie das Leben für Erkrankte und Angehörige aussieht.
  • Silke Weber „Die kranken Kinder von Moria“
    Die studierte Soziologin und Philologin Silke Weber behandelt in ihrem in der Zeit erschienenen Text eine sonderbare Krankheit: Augenscheinlich gesunde Kinder fallen während ihres Aufenthalts im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos in totale Apathie. Sie versucht der Erkrankung auf den Grund zu gehen und setzt sich tiefergehend mit dem Resignation Syndrom auseinander. Dabei lässt sie die Leser*innen jedoch keine Sekunde vergessen, dass es Kinder und Jugendliche sind, die von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen wurden.

Tag der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus

Der 3. Oktober 2022 stand in Wien ganz im Zeichen der psychischen Gesundheit. Auf Initiative des Wiener Gesundheitsverbundes (Wigev) und der Psychosozialen Dienste in Wien (PSD-Wien) wurde der Tag der psychischen Gesundheit im Wiener Rathaus begangen. Mehr als 50 Organisationen, die Beratung, Behandlungen oder Selbsthilfe zum Thema psychische Gesundheit, Krisen und Sucht in der Stadt Wien anbieten, haben sich im Wiener Rathaus präsentiert und einen Überblick über die vielfältige Landschaft ermöglicht.

Kinder- und Jugendpsychiatrie als Schwerpunkt

In einer Diskussion bei der Verleihung betonte der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Georg Psota: „Kinder und Jugendliche waren in den vergangenen Jahren von der Pandemie besonders betroffen, hinzu kommen der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, die Teuerungen. Die Folgen andauernder psychischer Belastungen sind enorm. Zum Beispiel haben fehlende soziale Kontakte und damit einhergehende physische Einsamkeit haben unter anderem dazu geführt, dass Essstörungen und Depressionen gerade bei jungen Menschen stark zugenommen haben. Die Psychosoziale Versorgung muss personell massiv gestärkt werden.“ Psychiatriekoordinator Ewald Lochner forderte einmal mehr, dass sämtliche Hürden beim Zugang zum Medizinstudium abgebaut werden: „Wir brauchen dringend Fachärzt*innen! Es gab dieses Jahr 12.000 Teilnehmer*innen beim Medizin-Aufnahmetest – man ließ über 10.000 Interessierte einfach ziehen, weil es nicht genügend Studienplätze gibt. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass sich grundlegende Dinge im System ändern müssen.“ Gleichzeitig sei es ebenso wichtig, deutlich zu machen, dass eine psychische Erkrankung eine Krankheit ist, wie auch jede somatische ist.

Der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Dr. Georg Prota (links), bei der Verleihung des Stephan-Rudas-Preises 2022.
(Copyright: Barbara Wirl)

Zum Beispiel haben fehlende soziale Kontakte und damit einhergehende physische Einsamkeit haben unter anderem dazu geführt, dass Essstörungen und Depressionen gerade bei jungen Menschen stark zugenommen haben.

Dr. Georg Psota, Chefarzt, Psychosoziale Dienste in Wien

Psychiater und Psychiatriereformer: Prof. Dr. Stephan Rudas (1944-2010)

„Die Seele ist ein unsichtbares Organ und wird übersehen, wenn man nicht über sie redet.” (15.12.2001) — Prof. Rudas hat nicht nur über die Seele geredet, sondern für sie gelebt. Ohne ihn hätte es die Wiener Psychiatriereform und den PSD-Wien nicht gegeben: Gemeinsam mit dem damaligen Stadtrat für Gesundheit und Soziales Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Alois Stacher (1925-2013) revolutionierte Prof. Rudas als PSD-Gründungschefarzt die psychiatrische Versorgung in Wien. Diese gesundheits- und sozialpolitisch höchst bedeutsame Epoche veränderte die Lebensrealität chronisch psychisch kranker Menschen fundamental.

Dr. Stephan Rudas

Neun Tipps, die helfen können

Offen über psychische Erkrankungen zu sprechen, erfordert Mut. Auf Twitter hat genau diesen Mut @FrauBadbits vorgemacht. Denn offen über unsere psychische Gesundheit zu reden, das kann auch anderen Kraft und Hoffnung geben. @FrauBadbits leidet unter Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen und Angststörungen. Nachdem sich die Panikattacken in letzter Zeit deutlich verringert haben und Angstzustände schon monatelang nicht mehr eingetreten sind, hat sie zusammengefasst, was ihr persönlich geholfen hat. Via Twitter hat sie diese Tipps geteilt – um anderen nicht nur Inspiration zu geben, sondern durch ihre persönlichen Erfahrungen auch Hoffnung zu erzeugen:

sich gegenseitig Halt geben
Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash

1. WATCH YOUR BODY Ok ok, das machen Panikler*innen sowieso vielleicht ein bisschen zu viel. Aber macht es trotzdem, nur eben richtig. Lasst euch EINMAL von Ärzt*innen durchchecken. Wirklich. Nur ein einziges Mal. Und zwar nicht auf eine super seltene Krankheit, sondern lasst nachsehen, ob die gängigsten Auslöser für Angst und Depressionen bei euch ok sind. Das sind die Schilddrüse und Nährstoffe. Bei den Nährstoffen am üblichsten: Eisen, Zink, Selen, Jod, B12 und D3 Ist alles bei euch okay, dann ist es die Psyche. Und das ist nicht schön, aber ok.

Wieso das so wichtig ist? – ihr habt die Gewissheit, dass ihr körperlich ok seid und das hilft – wenn es euch körperlich nicht gut geht, seid ihr psychisch auch weniger widerstandfähig. Das ist normal. – wenn‘s eine körperliche Ursache hat, könnt ihr machen was ihr wollt: Es wird nicht besser, wenn die Ursache nicht behoben wird.

2. MOVE THAT ASS „Mach doch einfach Sport“ hat noch nie jemanden geholfen. Wird es auch nicht. Menschen mit Depressionen können nämlich oft gar kein Sport machen. Wenn sie es könnten, ginge es ihnen nicht so schlecht, wie es ihnen geht und das wäre schon gut. ABER:

Bewegung hilft leider tatsächlich. Und dabei muss es nicht mal Sport sein. Aufräumen, spazieren … die alltäglichen Dinge eben helfen oft auch schon. Und wenn‘s ganz doll am Antrieb hapert, hilft es mir immer, einen Timer zu stellen. Ich kann nicht alles schaffen, aber ich kann 5 oder 10 Minuten zumindest etwas schaffen. Und man fühlt sich gleich besser. Und zum Sport … tja.. also wenn ich einem psychisch kranken Menschen eine „Sportart“ empfehlen müsste, wäre es Yoga. Und zwar aus guten Gründen. Yoga hilft erwiesenermaßen am allerbesten. Wieso?

Ganz einfach. Man hampelt nicht sinnlos rum. Man kommt ins spüren. Man meditiert, kommt zur Ruhe und strengt sich doch manchmal ganz schön an. Alles in einem, sozusagen. Und man kann seine Praktik immer seiner Laune anpassen. Insbesondere „Umkehrhaltungen“ helfen ungemein, weil

Frau beim Betreiben von Sport
Photo by Emma Simpson on Unsplash

3. BE SPIDER(WO)MAN Spinn dir ein Sicherheitsnetz. Such dir Leute, die dich verstehen. Online, in Selbsthilfegruppen. Vertrau dich Freunden und Familie an. Psychiater*innen, Therapeut*innen – alles was irgendwie helfen kann. Spinn dir ein Netz. Das ist mit das allerwichtigste!

4. FEED YOUR SOUL Mach mal die Augen zu. Also nur kurz. Atme mal tief ein und aus. Und dann frage dich, was dir gerade guttun würde. Irgendwas realistisches. Und wenn dir nichts einfällt: was hat dir in der Vergangenheit gutgetan? Wo hast du dich wohlgefühlt? Wobei hattest du Spaß? Wo konntest du Kraft tanken? Vielleicht möchtest du im Wald spazieren. Oder mal wieder schwimmen gehen. Vielleicht auch nur eine Tasse Tee trinken. Oder einen extra leckeren Kuchen essen. Was auch immer es ist, was dir guttut: tu es. So oft es geht. So viel es geht.

5. DANCE LIKE NO ONE IS WATCHING Das Leben ist ein Tanz. Kein Sprint. Nicht mal ein Marathon. Es ist ein Tanz. Mal gehts 2 Schritte vor, dann einen zurück. Vielleicht auch mal einen zur Seite. Wie auch immer. Tanze einfach in deinem Rhythmus.

Es ist völlig okay, wenn du ein paar Fortschritte gemacht hast und dann ein Rückschlag kommt. Oder wenn du merkst, dass du mit deiner Strategie nicht weiterkommst und du dann eine andere ausprobierst. Es ist nicht nur okay, sondern es ist richtig richtig gut, denn so lernst du unfassbar viel über dich und das Leben. Such dir den Soundtrack deines Lebens aus und dann Tanz dazu.

6. THE BEST VERSION OF YOU IS YOU Klingt komisch, ist aber so. Es gibt Gründe, sehr gute Gründe, warum es dir momentan nicht gut geht. Das ist nicht schön, aber okay. Du musst da sein, wo du gerade bist und wie du gerade bist, denn das ist genau richtig. Und wenn du das akzeptiert hast, dann mach nochmal die Augen zu, atme noch mal und dann stell dir mal vor, wie du wärst, wenn du absolut psychisch gesund und glücklich wärst. Wie würde sich das anfühlen? Was wäre in deinem Leben anders? Was würdest du anders machen? Mach‘s!

7. BETTER SAVE THAN SORRY Macht euch einen Notfallplan. Wenn ihr wisst, dass ihr in eine für euch schwierige Situation macht, bereitet euch vor. Fragt euch, was das absolute Worst-Case-Szenario ist (das wisst ihr ja eh) und dann überlegt euch Handlungsoptionen.

Beispiel: ich bin mit BFK alleine zuhause. Worst-Case: er verletzt sich und muss ins Krankenhaus. Und ich hab kein Auto. Handlung im Fall: Rettungswagen rufen Alternativer Gedanke: bisher ist das noch nicht passiert. Ich kann gut auf mich und mein Kind aufpassen.

Notausgang-Schild
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8. KNOW YOUR ENEMY Psychische Erkrankungen haben viele Gesichter. Und zwar alle. Kenne deine ganz genau. Erkenne sie frühzeitig. Lerne alles über deine Erkrankung. Je besser du sie verstehst, desto besser kannst du dich wappnen. Wusstet ihr zum Beispiel, dass man sein Gehirn voll gut verarschen kann? Wenn man 2 Minuten lächelt, fängt das Gehirn an, Glückshormone auszuschütten. Die Muskeln, die man zum Lächeln braucht sagen den Nerven „keine Ahnung warum, aber ich scheine fröhlich zu sein“ und die Nerven sagen „ok alles klar, ich sag’s dem Gehirn“. Das Gehirn checkt die Lage und denkt sich „komisch, fröhlich sehe ich hier nicht, aber die Muskeln müssen es ja wissen. Hier paar Botenstoffe, will ja niemandem im Weg stehen“

9. IT’S ONLY CHEMISTRY Bei psychischen Erkrankungen herrscht immer ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn vor. Das kann man ausgleichen. Mit Sport zum Beispiel. Es sei denn, man ist krank, dann nicht. Weil man dann kein Sport machen kann. Aber dann kann man Medikamente nehmen, die dafür sorgen, dass es euch besser geht im besten Fall. Viele Antidepressiva zum Beispiel funktionieren so, dass sie die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen. Das bedeutet, Serotonin (macht glücklich) bleibt länger im synaptischen Spalt. Ich will jetzt nicht so sehr ausschweifen. Nur kurz gesagt: die eine Zelle sagt der anderen länger, dass es euch gut geht. Man kann’s ja mal probieren.

Nachtrag: mein Wissen bezüglich Antidepressiva ist offensichtlich veraltet. Das liegt daran, dass ich mich 1x schlau gemacht hab, bevor ich zum ersten Mal welche nahm. Das war mit 18 – seitdem nicht mehr, weil es für mich plausibel klang und die Medikamente mir heute noch helfen.

BASTA – Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen

BASTA ist ein wissenschaftlich begleitetes Anti-Stigma-Projekt gegen Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen für den Einsatz ab der 10. Schulstufe. BASTA unterstützt Schüler*innen dabei, Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen abzubauen und Hilfsangebote in Wien kennenzulernen.

Bereits mehr als 1000 Schüler*innen und Lehrpersonen haben an BASTA teilgenommen – wir freuen uns über weitere Anmeldungen. Engagierte und interessierte Lehrer*innen schicken bitte ein E-Mail an: basta@sd-wien.at


Ziele und Inhalte:

  • Abbau von Vorurteilen gegenüber psychisch erkrankter Menschen bzw. psychiatrischen Hilfseinrichtungen
  • Wissenserweiterung bezüglich psychischer Krankheiten
  • Förderung einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit Vorurteilen

Das Angebot richtet sich an: Wiener Schulklassen ab der 10. Schulstufe

Inhaltliche Schwerpunkte: Im Zentrum des Projekts steht die Begegnungsstunde mit einem BASTA-Tandem, bestehend aus einer geschulten Person mit Psychiatrie-Erfahrung (Erfahrungsexpert*in) und einer*einem Fachexpert*in, welcher mittels Unterrichtsmaterialien zum Thema psychische Erkrankungen vorbereitet wird.

Methoden und Umsetzung:
Unterrichtsmaterial zur Vorbereitung (2 bis 4 UE), anschließend Begegnungsstunde (2 UE) mit einem BASTA-Tandem. Unterrichtsmaterialien stehen auch in digitalisierter Form zur Verfügung – Details siehe BASTA Infoblatt.

Dauer:
Für die Umsetzung des Lernpakets werden ca. 4 Schulstunden (á 45 Minuten) benötigt, wobei die Begegnung mit dem BASTA-Tandem mindestens eine Doppelstunde umfassen soll.

Kooperationspartner*innen:
Im Rahmen der Gesundheitsreform wurde von der Sozialversicherung und der Stadt Wien ein Landesgesundheitsförderungsfonds eingerichtet. BASTA wird daraus finanziert und den Wiener Schulen kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Umsetzung erfolgt in Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse Wien, dem Kuratorium für Psychosoziale Dienste in Wien (PSD-Wien) und der Sucht- und Drogenkoordination Wien (SDW). Wir danken für Ihr Verständnis, dass das Kontingent für dieses Angebot begrenzt ist.

Kosten:
BASTA steht den Wiener Schulen kostenlos zur Verfügung. Im Rahmen der Gesundheitsreform wurde von der Sozialversicherung und der Stadt Wien ein Landesgesundheitsförderungsfonds eingerichtet, aus dem das Projekt finanziert wird.

Kontakt:
Angela Mach
Referentin – Fokus Jugend
Tel.: +43 1 4000-87348
basta@sd-wien.at

Eltern sein in der Krise

Wir haben mit den Kolleg*innen mit Kindern geredet – es ist nicht einfach, es ist eigentlich ganz schön schwer. Also was hilft?

Die vergangenen fast zwei Jahre waren und sind nach wie vor für uns alle eine Herausforderung. Aber besonders für die Kleineren und Jüngeren  war  die  Zeit  geprägt  von  einschneidenden Erlebnissen. Verwirrung, Verzicht, Isolation, Unsicherheit. Kindergarten und Schulen waren geschlossen, immer wieder führen Corona-Infektionen dazu, dass die Kinder zuhause bleiben müssen. Für uns Eltern ist das, um ehrlich zu sein, kaum schaffbar. Home-Office, Betreuungspflichten, Ausgleich zu Schule oder Kindergarten sein, über die neuesten Maßnahmen Bescheid wissen, möglichst nicht streiten oder diskutieren und im besten Fall den Adventskalender schon vor dem 1. Dezember fertig haben und den Adventskranz gleich selber basteln. Immerhin ist es kein Gesichtsverlust, wenn in der Stadt der Weihnachtsbaum nicht direkt aus dem Wald geholt wird.  Und wenn man denkt, man hat es geschafft, weil man fürs Kind ein Wichtelgeschenk aufgetrieben hat und der Lockdown sich lockert, und Silvester eigentlich wunderschön war und man fürs neue Jahr so viel vor hat… Ja, dann kommt auch schon ein Anruf von der Schule oder dem Kindergarten. Jemand ist positiv. Das Kind muss zu Hause bleiben. Man selbst nun mal auch. Wieder Home-Office, wieder versuchen, den Kleinen zu beschäftigen, wieder verwunderte und traurige Augen, die zu einem aufblicken und fragen, wann es vorbei ist.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht schaffbar in dieser Zeit, perfekt zu sein. Für niemanden. Und das ist okay.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht schaffbar in dieser Zeit, perfekt zu sein. Für niemanden. Und das ist okay. Weder die Eltern, noch das Kind müssen in Krisen Hochleistung erbringen, jede Erwartung erfüllen und so tun, als wäre alles wie immer. Das können wir nämlich auch gar nicht. Also schrauben wir unsere Ansprüche runter. Das betrifft die Hausarbeit und auch den Job. Denn jetzt jeden Tag frisch geduscht, mit sauberem, angezogenem Kind in der blitzblank geputzten Wohnung zu sitzen, macht die Krise auch nicht erträglicher. Und ist auch nicht die psychische Belastung wert.

Was hilft also in Krisenzeiten?

Es geht nicht darum, dass die Kinder ein schlaues Buch nach dem anderen lesen und super Noten schreiben und eine neue Fremdsprache lernen. Es geht nicht darum, dass die Eltern 20 verschiedene Kekssorten backen, sich nichts anmerken lassen und das Home-Office und die Aktivitäten für das Kind pädagogisch höchst wertvoll sind. Es geht darum, möglichst gut gemeinsam durch diese Zeit zu kommen. Das wissen auch die Kinder. Also sollen sie ihre Comics lesen oder zum 62. Mal “Frozen” schauen (Wir möchten an dieser Stelle zu Abwechslung “Encanto” empfehlen). Man muss nicht einen riesigen Ausflug planen, schon eine halbe Stunde an der frischen Luft kann für alle eine Erleichterung sein.

Halt geben und Strukturen schaffen

Auch wenn sich ständig alles ändert – Schließung, Öffnung, neue Maßnahmen, so kann man im Kleinen Strukturen schaffen. Wann stehen wir auf, wann ziehen wir uns an, wann gehen wir ins Bett, wann gehen wir raus, wann räumen wir auf, bis wann wollen wir das Puzzle fertig haben und wann schauen wir zum 63. Mal “Frozen”? Das gemeinsame Planen kann den Kids auch ein stückweit helfen, Kontrolle und Perspektiven zurück zu erlangen.

Reden. Zuhören. Verstehen. Verwöhnen.

Kinder merken, wenn etwas nicht stimmt. Deshalb ist es wichtig, mit ihnen zu sprechen. Kindgerecht zu vermitteln, was gerade passiert. Fragen beantworten, nachfragen. Was sind die Sorgen der Jüngeren, was macht ihnen Angst, was brauchen sie gerade? Wir alle gehen unterschiedlich mit Krisen um: Manche brauchen Ruhe, manche brauchen Ablenkung, manche brauchen Zeit für sich, manche brauchen Beschäftigung. Es ist für Eltern nicht einfach, sich das zu nehmen, was man braucht. Aber man kann sich selbst mitteilen. Wenn man müde ist, kann man das mitteilen. Kinder verstehen das – einfach ehrlich mit ihnen reden, sie haben Verständnis und Empathie, auch wenn sie beaufsichtigt werden oder spielen wollen, sie stellen sich darauf ein. Und zufriedene Kinder machen vieles einfacher. Darum darf es auch mal ein Eis mehr sein oder eine Woche nur mit Lieblingsessen. Oder sich verkleiden und zu Hause eine Onesie-Party machen. Wir müssen derzeit alle auf sehr viel verzichten – lassen wir zumindest im Kleinen eine bisschen die Sau raus.

Um für die Jüngeren gut da sein zu können, bedeutet das auch, auf uns selbst zu schauen. Es ist nicht einfach, oder immer möglich, besonnen und ruhig alles zu erklären, zwischen Home-Office und Hausaufgaben und dem Geschirrtuch in der Hand: Telefonieren mit Freund*innen oder aber auch Angebote zur Entlastung nutzen, wie zB die Corona-Sorgenhotline (01400053000). Für sich selbst mal was Gutes tun, das Kind in einen Video-Call mit Großeltern oder Bekannten setzen und selbst kurz durchschnaufen. Und akzeptieren, dass es gerade nicht perfekt sein muss. Wir können stolz auf das sein, was wir bereits geschafft haben. Als Eltern. Als Familie. Und wir können stolz sein auf unsere Kinder. Und sie das wissen lassen.

Ein langer, aber lohnender Weg

„Das zentrale Anliegen ist, Menschen in seelischer Not Halt und Hoffnung zu vermitteln.“

Kinder-und Jugendpsychiater*in zu sein, bedeutet eine große Verantwortung auf sich zu nehmen. Und es bedeutet, eine fundierte Ausbildung hinter sich zu bringen. Im Fall von Dr. Christian Scharinger ist dies eine Dauer von insgesamt elf Jahren nach Abschluss des Medizinstudiums, die aber „im Rückblick schnell verflogen sind“, wie er sagt. Derzeit ist er Assistenzarzt an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien.

Schon während der Studien der Humanmedizin und der Psychologie habe er sich für das Fach Psychiatrie interessiert und viele Lehrveranstaltungen in diesem Bereich besucht, berichtet er. Bis zur Tätigkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie dauerte es dennoch eine ganze Weile. Dr. Scharinger begann eine Psychotherapieausbildung und forschte im Feld der Psychiatrie. Nach dem Medizinstudium begann die sechsjährige Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. Nach dem Abschluss begann die wiederum etwas mehr als fünf Jahre dauernde Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der selbstverständlich von Beginn an bereits mit Patient*innen gearbeitet wird.

Nach einer Krise wieder Sinn und Freude am Leben finden

Ausschlaggebend für die Wahl dieses doch langwierigen Berufsweges sei das „Interesse für die frühen Phasen von psychischen Erkrankungen“ gewesen, sagt er. „Den Bereich der Früherkennung und Frühintervention bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie deren Familien finde ich besonders faszinierend und herausfordernd.“

Der Lohn für die Anstrengungen während der Ausbildung liegt darin, „wenn junge Menschen nach Krisen wieder Sinn und Freude am Leben finden und ihr Herz wieder an etwas oder jemanden hängen können“, betont er. Sich auf junge Menschen einlassen zu können ist mindestens ebenso wichtig, wie die medizinische Seite des Berufs. Die zentrale Aufgabe sei es, Menschen in seelischer Not Halt und Hoffnung zu vermitteln.

Teamplayer

„Kinder und Jugendpsychiatrie ist ein Fach für Teamplayer. Unsere Arbeit findet in der Zusammenarbeit von vielen Berufsgruppen statt, die jeweils unterschiedliche professionelle Blicke auf Kinder und Jugendliche richten.“ Neben dem medizinisch-diagnostischen Blick der Kinder- und Jugendpsychiater*innen wird das System Familie durch die Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Krankenpflege, der klinischen Psychologie, Ergotherapie, Logopädie, Sozialpädagogik, klinischer Sozialarbeit, Physiotherapie, Musiktherapie, Sonder-Heilpädagogik und den vielfältigen Methoden der Psychotherapie ganzheitlich betrachtet.

“Unsere Arbeit findet in der Zusammenarbeit von vielen Berufsgruppen statt, die jeweils unterschiedliche professionelle Blicke auf Kinder und Jugendliche richten.”

Als größte Herausforderung bezeichnet Scharinger den Faktor Zeit. „Häufig kommt es erst dann zu einer ersten Kontaktaufnahme mit einer kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung, wenn sich Probleme schon über einen längeren Zeitraum entwickelt haben und sich die Situation sehr zugespitzt hat. Es ist oft eine sehr große Herausforderung, in einer solchen Situation eine schrittweise Lösung und Verbesserung gemeinsam mit dem Kind und seiner Familie zu erarbeiten“, so der Kinder-und Jugendpsychiater.

Wunsch

Wünschen würde er sich, dass es ein breiteres Angebot für Familien mit Kindern und Jugendlichen in Krisen gibt, „damit diese bereits früher Unterstützung annehmen können.“

Hands-on Mentalität und psychische Stabilität als Voraussetzung

„Wenn es Patient*innen im Zuge einer Behandlung erstmals gelingt, mich anzubrüllen und offen wütend auf mich zu sein, finde ich das großartig“

Theres Graf arbeitet derzeit als Assistenzärztin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien. Sie befindet sich im vierten Ausbildungsjahr. Der Weg bis zu dem Moment, an dem sie wusste, dass das „genau das ist, was ich immer machen wollte“, wie sie ihren heutigen Beruf bezeichnet, war allerdings kein geradliniger. Erst kurz vor Abschluss eines Betriebswirtschaftsstudiums „habe ich den Mut gefasst, mich für einen Bereich zu entscheiden, der mich so richtig begeistert“, erzählt sie und meldete sich für die die Aufnahmeprüfung in Medizin an. Das Studium der Kommunikationswissenschaft, das sie parallel zum Betriebswirtschaftsstudium begonnen hatte, setzte sie fort. Neben dem Medizinstudium arbeitet sie als PR- und Marketingassistentin, wodurch sie sich „das Jobben in der Gastronomie aus früheren Tagen ersparte.“

“Nach der ersten Famulatur, war ich sicher, dass ich dieses und nur dieses Fach machen wollen würde.“

Doch auch während des Medizinstudiums dauerte es Jahre, bis sie auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie aufmerksam wurde und sich schlussendlich dafür entschied: „Ich wusste bis zu meinem vierten Studienjahr gar nicht, in welche Richtung ich nach Abschluss meines Medizinstudiums gehen wollen würde. Ich hatte Neurologie, Gynäkologie und Allgemeinmedizin in Erwägung gezogen, war aber eigentlich nicht einmal sicher, ob ich überhaupt Ärztin werden würde. Während meines vierten Studienjahres habe ich mir dann die fachärztlichen Ausbildungsordnungen angesehen, und bin dabei erstmals auf das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie aufmerksam geworden. Beim Durchlesen der Ausbildungsordnung habe ich gedacht: Das ist genau, was ich immer machen wollte; ich wusste bloß bislang nicht, dass es dazu eine Fachrichtung gibt. Nach der ersten Famulatur, war ich sicher, dass ich dieses und nur dieses Fach machen wollen würde.“

Hohe Individualität

Als Besonderheit in ihrem Beruf sieht sie, dass neben den Patient*innen auch das unmittelbare Umfeld, wie Familien und/oder Betreuungseinrichtungen, in den Arbeitsprozesseingebunden werden muss. Außerdem schätzt sie die hohe Individualität: „Da jede Psyche einzigartig ist, bleibt mein Beruf stets spannend“, sagt Graf.

Behandlungserfolge sind natürlich besonders schön. Dass diese manchmal anders aussehen als in anderen medizinischen Fachrichtungen macht sie an einem eindrücklichen Beispiel deutlich: „Wenn es beispielsweise einer Patientin mit Magersucht, die immer entsprechen möchte, im Zuge einer Behandlung erstmals gelingt, mich anzubrüllen und offen wütend auf mich zu sein, finde ich das großartig.“  

“Man muss sich aber auch abgrenzen können und manchmal auch die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten akzeptieren lernen.”

Als wichtigste Charaktereigenschaften, die man als Kinder- und Jugendpsychiater*in mitbringen muss, sieht sie Hands-on Mentalität und psychische Stabilität sowie die Freude an der Entwicklung kreativer Lösungen. Man muss sich aber auch abgrenzen können und manchmal auch die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten akzeptieren lernen. Darüber hinaus benötigt man tragfähige berufliche und private Netzwerke, die in schwierigen Phasen Unterstützung bieten. 

Mangelsituationen als größte Herausforderung

Als größte Herausforderung empfindet sie die Mangelsituation in vielen Bereichen. Einerseits die ökonomischen Schwierigkeiten die entstehen, wenn etwa mehrere Kinder einer Familie Unterstützung brauchen, oder wenn die finanziellen Ressourcen gering sind. Aber auch bei den Angeboten, wie etwa tagesklinische Therapiezyklen, bei denen der Bedarf „bei weitem“ nicht gedeckt ist.

Theres Graf, Dr.in