Beitrag erschien ursprünglich in Lambda Nachrichten März 2021
Genau 50 Jahre ist es her, dass gleichgeschlechtliche Liebe in Österreich legalisiert wurde. Und eine ganze Menge hat sich seit 1971 verändert. Heute haben wir die Ehe für homosexuelle Paare, Antidiskriminierungsgesetze zumindest in der Arbeitswelt und trotz aller bestehender Probleme das grundsätzliche Recht auf einen dritten Geschlechtseintrag. Doch in einer wichtigen Frage ist leider noch bei weitem nicht so viel weitergegangen in den letzten 50 Jahren: Bei der psychischen Gesundheit der LGBTIQ-Community.
Als schwuler Mann erlebe ich selber Tag für Tag, was für ein immenses Stigma es auch heute noch gibt, wenn es darum geht, in unserer Community über psychische Gesundheit zu reden. Und obwohl es dazu bei weitem nicht genug Studien gibt, wissen wir, dass psychische Erkrankungen gerade für Schwule, Lesben, Bisexuelle und ganz besonders transidente und intergeschlechtliche Menschen noch immer ein riesiges Thema sind. Die Auswirkungen davon erleben wir in unserem Freundeskreis, bei unseren Bekannten und manchmal sogar in der eigenen Beziehung.
Die Corona-Krise und damit die Lockdowns, das Fehlen von Safe Spaces und das Wegfallen von sozialen Kontakten … all das hat die Situation in den letzten Monaten noch akuter gemacht. Mehr denn je geht es für alle von uns nicht nur darum, auf unsere eigene psychische Gesundheit zu achten, sondern auch andere in unserer Community zu unterstützen. Der beste und einfachste Weg dazu: Das offene, tabulose Gespräch starten und gemeinsam das Stigma rund um psychische Erkrankungen überwinden.
Warum ist psychische Gesundheit so ein wichtiges Thema?
Angst, Stress und Ausgrenzung. All das erlebt unsere Community auch im Jahr 2021 und auch in einer Stadt wie Wien immer noch. Trotz aller Fortschritte, die wir gemacht haben, leben wir in einer Welt, die sich in weiten Teilen an heteronormativen Idealen orientiert. Auch wenn viele von uns inzwischen das Glück haben, in Familien aufzuwachsen, die ihre sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität akzeptieren und ein sicheres Umfeld bieten, erleben wir im Alltag noch immer Ausgrenzung oder Diskriminierung. Und allein die Angst davor – die Unsicherheit, wenn man die Hand der Freundin oder des Freundes in der Öffentlichkeit hält – führt zu immensem psychischen Druck. Andere erleben leider auch in ihrem engsten Umfeld auf schmerzhafte Weise, was es bedeutet, nicht als die Person akzeptiert zu werden, die man ist.
All das führt dazu, dass Menschen in der LGBTIQ-Community mit besonderen Belastungen konfrontiert sind, wenn es um ihre psychische Gesundheit geht. Der Begriff „Minderheitenstress“ beschreibt dieses Phänomen. Kurz gesagt geht es dabei um den alltäglichen Stress, den Gruppen wie unsere Community, die noch immer von Marginalisierung betroffen sind, erleben – bewusst oder unbewusst. Dazu gehören sowohl wirklich erlebte Diskriminierungen im persönlichen Leben als auch die Angst vor Ablehnung, blöden Kommentaren oder sogar Gewalterfahrungen. Das konstante „im Hinterkopf behalten“ der Möglichkeit, dass etwas aufgrund unserer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität passieren könnte, führt in vielen Fällen schlicht und einfach zu chronischen Stresserfahrungen, die unseren Alltag einschränken. Dazu kommen auch Phänomene innerhalb der eigenen Community, die Druck auf uns machen – von unrealistischen Körperidealen bis hin zu Rassismus, Sexismus und Transphobie auch in unseren eigenen Reihen.
Klar ist natürlich, dass jede* und jeder* von uns solche Erfahrungen ganz persönlich erlebt. Für viele ist das vor allem in einer weltoffenen Stadt wie Wien vielleicht kein großes Problem und sie denken gar nicht viel darüber nach, ob ihnen Ausgrenzungen widerfahren könnten. Und das ist eine gute Entwicklung. Nichtsdestotrotz sollten wir alle, egal wie sicher und „angekommen“ wir uns fühlen, von Zeit zu Zeit innehalten und darüber nachdenken, wie es uns geht. Denn das vorhandene Datenmaterial zeigt immer noch, dass unsere Community von psychischen und psychosozialen Problemen deutlich öfter betroffen ist, als die Gesamtbevölkerung.
In zahlreichen Fällen wirkt sich dieser Stress auf eine erhöhte Zahl von Depressivität oder Angststörungen, in besonders intensiven Fällen durch vermehrten Drogenkonsum oder Suizidalität. Eine US-Studie hat in diesem Zusammenhang die Frage von Resilienz untersucht, also unsere Fähigkeit, mit all den beschriebenen Stressfaktoren umzugehen. (1) Die Forscher*innen haben gezeigt, dass gerade für junge Menschen in der LGBTIQ-Community der Stress durch Outing und die Beurteilung durch ihr Umfeld besonders häufig zu Depressionen und Angsterfahrungen führen kann. Klar geworden ist auch, dass Unterstützung aus der Community, Safe Spaces und sensibilisierte Personen im Bildungs- und Gesundheitswesen gerade für diese Gruppe einen enormen Unterschied machen– sowohl in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit als auch auf ihren Alltag. Resilienz kann aufgebaut und gestärkt werden, Herausforderungen können zur Chance werden und damit eine Möglichkeit bieten, die eigene psychische Gesundheit auch als Erwachsene in den Fokus zu rücken.
Die Pandemie ist eine Herausforderung für alle von uns
Vor dem Hintergrund der alltäglichen Erfahrungen, die unsere Community seit Jahrzehnten begleiten, stellt die Corona-Pandemie seit fast einem Jahr natürlich eine ganz besondere Herausforderung dar. Lockdown und geschlossene Schulen, der Wegfall von Community-Treffpunkten, von Vereinszentren und Szene-Lokalen haben das Leben von vielen ordentlich eingeschränkt. Weltweit und auch in Österreich mussten vor allem junge, queere Menschen oft verstärkt Zeit in familiären Umfeldern verbringen, die nicht von Akzeptanz geprägt waren. Supportsysteme wie Jugendgruppen und Vereinsabende fielen weg oder verlagerten sich in den digitalen Raum. Unterstrichen wurde dieser besorgniserregende Befund schon im April 2020 von der Menschenrechtskommissarin der UNO, Michelle Bachelet, die vor den besonderen Auswirkungen der Corona-Krise auf die weltweite LGBTIQ-Community warnte.
Forscher*innen aus London sprechen in einer Befragung daher von einer „Krise der psychischen Gesundheit“ innerhalb unserer Community durch die Pandemie. (2) Allein das Verstecken der eigenen Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung im Familienumfeld führe in vielen Fällen zu besonderem Stress. In der „Queerantäne-Studie“ berichten die Befragten von erlebter Homo- und Transphobie, depressiven Episoden und erhöhtem Gebrauch von Suchtmitteln.
Diese und andere Studien zeigen, dass unsere Community verstärkt unter einem Trend leidet, der die ganze Bevölkerung trifft – die besondere psychosoziale Belastung durch Pandemie und Lockdowns. In Wien haben wir mit einer Vorreiter-Studie schon im Frühjahr 2020 erhoben, dass ein Viertel der Wiener*innen durch die Pandemie eine spürbare Verschlechterung der eigenen psychischen Gesundheit erlebt hat. 40 Prozent der Befragten erlebten Ängstlichkeit und Lustlosigkeit, rund ein Drittel berichtete von Hoffnungslosigkeit und mehr als jede*r Zehnte musste schwere Konflikte im Familienumfeld mitmachen. Besonders betroffen von all dem sind Gruppen, die auch unter wirtschaftlicher Ungleichheit, Jobverlust und Druck am Arbeitsmarkt leiden. All diese Phänomene, das zeigen uns internationale Studien, treffen unsere Community in der Pandemie besonders stark.
Darüber reden hilft
Unter dem Motto „Darüber reden wir“ haben die Psychosozialen Dienste in Wien vor eineinhalb Jahren eine Kampagne gegen das Stigma rund um psychische Erkrankungen gestartet. Der Titel klingt simpel – gerade in der aktuellen Krise ist er aber die wichtigste Perspektive, wenn es um die psychische Gesundheit unter dem Regenbogen geht!
Der beste Start, um Stress und psychische Belastungen anzupacken, ist durch das offene, tabulose Gespräch – sowohl für uns selbst als auch für unsere Freund*innen. Nur indem wir in unserem Umfeld darüber sprechen, wie es uns geht, können wir verhindern, dass Probleme zu ausgewachsenen Krisen werden. Das bedeutet aber auch, um Hilfe zu fragen, wenn wir sie brauchen und Menschen in unserem Umfeld dabei zu unterstützen, wenn nötig Hilfsangebote anzunehmen.
Psychische Erkrankungen sind Krankheiten. Wenn wir sie ignorieren, können sie schlimmer oder sogar chronisch werden … so wie alle anderen Krankheiten auch. Wenn wir aber unser eigenes psychisches Wohlbefinden ernst nehmen, offen darüber reden und Unterstützung suchen, wenn wir sie brauchen, dann kann das unseren Alltag und unsere Leben zum Besseren verändern.
Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenhilfe der Stadt Wien
Studien:
- Studie „The association of resilience, perceived stress and predictors of depressive symptoms in sexual and gender minority youths and adults”; University of Missouri-Columbia (2015); McElroy, Jane A. et al.; https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/19419899.2015.1076504
- Queerantine Studie; University of London; Kneale, Dylan; https://queerantinestudy.wixsite.com/mysite