„Suchterkrankung ist eine psychiatrische Erkrankung“

Dr.in Regina Walter-Philipp ist seit dem 1. Februar neue ärztliche Leiterin der Suchthilfe Wien (SHW). Seit fast 10 Jahren ist die Allgemeinmedizinerin in der Suchthilfe in unterschiedlichen Bereichen tätig: im Ambulatorium, im regionalen Kompetenzzentrum und als arbeitsmedizinische Betreuerin im gesamten Unternehmen. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang, Zukunftsideen, die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Berufsgruppen sowie über das Zusammenwachsen der Medizin bei legalen und illegalen Substanzen und zwischen psychosozialen Problemlagen, sozialer Exklusion und Suchterkrankungen.

DRW: Könnten Sie kurz umreißen, wie Sie Ihre Funktion sehen und wie diese in Zukunft aussehen soll?

Dr.in Regina Walter-Philipp: Ich sehe meine Hauptaufgabe vor allem darin, mir anzusehen, welche weiteren Angebote es in Zukunft geben soll. Da gäbe es aus meiner Sicht einiges, was Sinn macht. Zum einen ist das der Bereich der intravenösen Substitution, von dem ich mir wünsche, dass er ausgebaut wird und irgendwann in Regelbetrieb geht. Zum anderen möchte ich mich wirklich auch stark dem Thema Alkohol widmen. Und zwar auch ein bisschen im Zusammenhang mit illegalen Substanzen, alles was kombinierte und Mehrfachabhängigkeiten sind.

Ist die kombinierte – oder Mehrfachabhängigkeit ein großes Thema?

Man sieht das einfach, wenn man in beiden Bereichen gearbeitet hat. Beim regionalen Kompetenzzentrum ist es natürlich immer wieder der Fall, dass neben der Alkoholerkrankung auch andere Substanzen im Spiel sind. Bei illegalen Substanzen wissen wir, dass etwa die Hälfte der Klient*innen auch Alkoholprobleme haben.

Wäre es wünschenswert, wenn es bei der Behandlung der illegalen und legalen Substanzgruppen stärkere Überschneidungen gäbe?

Das wäre bestimmt etwas, was ich mir für meine Aufgabe hier bei der SHW wünschen würde. Jetzt ist es ja so, dass die Bemühungen stärker werden, die Verbindungen mit der Psychiatrie zu schaffen. Irgendwann, finde ich, darf auch die Unterscheidung illegal und legal nicht mehr so massiv sein. Im Grunde handelt es sich immer um eine Suchterkrankung. Die Behandlungsmodelle sind nicht unähnlich und das gilt auch für die Ursachen. Dadurch, dass es viele Überschneidungen gibt und wenige isolierte Abhängigkeiten, denke ich, dass es Zeit wird, hier Projekte zu kombinierte Abhängigkeiten zu schaffen.

Die Überschneidung psychischer Erkrankungen und Suchterkrankungen haben Sie bereits angesprochen. Wie hängt das aus Ihrer Sicht zusammen?

Suchterkrankung ist eine psychiatrische Erkrankung. Sie ist im Klassifikationssystem der Erkrankungen so verortet. De facto ist es so, dass Patient*innen mit einer Suchterkrankung häufig psychiatrische Komorbiditäten haben und umgekehrt entwickeln Patient*innen mit einer psychiatrischen Erkrankung häufig eine Suchterkrankung. Das bedingt sich von beiden Seiten.

“Was zuerst war, weiß man oft auch nicht mehr. Diese Verbindungen gibt es und da muss man einfach auch hinschauen.”

Stichwort Stigmatisierung auch gegenüber suchterkrankten Personen. Aus Ihrer Erfahrung: Hat sich in den vergangenen Jahren hier etwas verbessert?

Ich habe hier natürlich eine eingeschränkte Wahrnehmung. Das ist so, wie wenn man schwanger ist und auf der Straße nur noch schwangere Frauen sieht. Ich habe das Gefühl, hier in diesem Umfeld – zumindest innerhalb dieser Blase –, nimmt die Stigmatisierung bei suchtkranken Menschen untereinander selbst ein bisschen ab. Es ist nämlich tatsächlich so, dass sich suchtkranke Menschen oft gegenseitig stigmatisieren, indem sie sagen, ich bin kein „Junkie“ oder ich bin kein „Alkoholiker“. Aber ich glaube, dass draußen noch ganz viel Aufklärungsarbeit passieren muss. Bei Alkohol zeigt sich das gut: Sobald das Trinkmuster zur Erkrankung wird, wollen wir nicht mehr viel damit zu tun haben. Offiziell stigmatisiert werden Menschen mit einem illegalen Substanzkonsum.

Danke für das Gespräch.