Ein Essay von Anita Ruhm
Von klein auf beginnen wir zu lernen, durch eigene Erfahrung oder durch andere, die uns etwas beibringen. Es beginnt mit dem Krabbeln, Laufen lernen und mit dem Sprechen. Dann werden wir eingeschult, lernen zu lesen und zu rechnen und zu schreiben. Das sind ein paar grundlegende und offensichtliche Dinge, die wir in einem jungen Alter lernen und die uns ein Leben lang begleiten. Wir lernen aber auch weniger offensichtliche Dinge, wie zum Beispiel uns selbst anzuziehen, mit anderen Kindern zu spielen und kommunizieren, oder welches Essen uns gut schmeckt.
Später lernen wir vielleicht eine fremde Sprache, wie man ein Auto fährt oder eine Sportart. Egal in welchem Alter wir uns befinden, wir hören nie auf, etwas Neues zu lernen. Überleg mal: vielleicht hast du dir vor kurzem eine neue App heruntergeladen und kanntest dich im ersten Moment noch nicht aus, aber nach ein paar Minuten Orientierung wusstest du plötzlich wie du dich auf der App zurechtfinden kannst. Vielleicht hast du ein neues Rezept ausprobiert und hast jetzt gelernt, ein neues Gericht zu kochen. Oder du hast gerade gelernt, wie man die Miete richtig überweist.
Aufhören, etwas Neues zu lernen ist fast schon unmöglich. Wir lernen so unendlich viel, dass uns gar nicht bewusst ist, wie viel und was wir eigentlich lernen. Und genau hier ist der springende Punkt: Wie viel von dem was wir lernen, geschieht eigentlich „unabsichtlich“, unbewusst und prägt sich dennoch tief in unsere Psyche ein? Wir lernen nicht nur Fähigkeiten, sondern auch Verhaltensweisen, Gedanken oder Annahmen, die uns emotional ganz stark beeinflussen. Und gerade negative Eindrücke oder Erfahrungen prägen sich dabei am stärksten ein und verursachen, dass wir etwas negativ Gefärbtes lernen, wie eine Annahme über uns selbst oder über die Welt. Etwas, das vielleicht gar nicht stimmt und auch schwer richtigzustellen ist. In diesem Video unterscheide ich hier zwischen solchen Annahmen und Erfahrungen auf einer persönlichen und einer etwas größeren, sagen wir „kollektiven“ Ebene, die natürlich beide zusammenhängen und sich beeinflussen, etwas das wir auf kollektiver Ebene lernen, wird uns auch persönlich beeinflussen.
Persönliche Erfahrungen, die sich auf unser Leben auswirken können so entstehen: Stell dir ein Kind vor, das nur gelobt wird, wenn es gute Noten mit nach Hause bringt und dem von auf klein auf suggeriert wird, es muss Karriere machen und ganz viel Geld verdienen usw. Was passieren wird, ist dass dieses Kind lernt, den eigenen Selbstwert von Leistung abhängig zu machen und sich innerlich nur zufrieden fühlt, wenn es etwas geleistet hat. Ein Kind, das wegen seines Aussehens von Gleichaltrigen gemobbt wird, lernt irrtümlicherweise, dass es nicht schön ist, dass es „anders“ ist und nicht dazugehört. Eine Person, die als Kind von ihren Eltern im Stich gelassen wurde, könnte als Erwachsener lernen, sich nur auf sich selbst zu verlassen und wird vielleicht Probleme haben, sich auf Beziehungen einzulassen.
Auf kollektiver Ebene passiert so etwas auch
Seien es die Medien, die einem ständig makellose Menschen mit ihren scheinbar perfekten Leben vorführen und ein kaum erreichbares Schönheitsideal erzeugen oder völlig falsche Vorstellungen davon, wie ein realistisches Leben aussieht. Oder die unsichtbare Zeitleiste mit den Meilensteinen, die jede Person in einem gewissen Zeitraum erreichen muss. Sei es die Gesellschaft, die einem eine Norm zu fast allem aufdrängt und jeder Person, die davon abweicht, das Gefühl gibt, abnormal zu sein. Sei es die Kultur, die uns auf Trab hält und ständig sagt, schneller, besser, mehr, bis wir im Burnout landen.
Vieles was wir auf kollektiver Ebene lernen, ist eine vorgefertigte Meinung unserer Gesellschaft, Kultur oder der Medien oder von allem zusammen. Manches davon scheint aber in unseren Köpfen schon fast eingebrannt zu sein. Es erfordert Mut und Geduld, diese Gedanken zu hinterfragen und zu ändern.
Es ist schade, dass wir so viel über uns, andere, oder die Welt lernen, was negativ gefärbt ist oder was das Ergebnis einer schlechten Erfahrung oder ungünstigen Perspektive ist. Wenn jemand irrtümlich durch eine prägende Erfahrung gelernt hat, nicht „ok“ oder nicht liebenswert zu sein, kostet es doppelt so viel Anstrengung, diese Annahme zu VERLERNEN und sich dann klarzumachen, dass er okay ist. Doppelt so viel als wie, wenn er von Beginn an gelernt und gewusst hätte, dass er so wie er ist, in Ordnung ist.
Lernen zu verlernen
Genauso wie wir Mühe und Zeit darin investieren, Neues zu lernen, sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die wir loslassen und Verlernen müssen. Also das Beste, was wir tun können, ist, uns darüber klar zu werden, ob es in unseren Köpfen etwas gibt, das weder uns noch der Welt zum Besseren dient und wie wir es in eine günstigere Richtung ändern können
Hier sind einpaar Dinge die wir verlernen können und im Gegenzug neu lernen können:
- Wir lernen, uns selbst bedingungslos zu lieben und zu akzeptieren. Wir verlernen, unser Selbstwertgefühl von äußeren Instanzen oder Bedingungen abhängig zu machen.
- Wir lernen, anderen Menschen und uns selbst zu vergeben und versuchen, sie und uns selbst zu verstehen. Wir verlernen, zu grollen oder zu verurteilen.
- Wir lernen, uns selbst als vollständige Menschen samt Stärken und Schwächen zu sehen. Wir verlernen, uns keine Fehler oder Schwächen zugestehen zu dürfen.
- Wir lernen, autonome Menschen zu sein, die sich selbst glücklich machen dürfen. Wir verlernen, unser Glück abhängig von anderen Personen zu machen.
- Wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten und uns zu geben, was wir brauchen.
- Wir lernen, uns selbst und der Welt zu vertrauen, und darauf, dass wir auf unser Schicksal selbst Einfluss nehmen können. Wir verlernen, immer vom Schlechtesten auszugehen und davon, dass wir uns in einer „gefährlichen“ oder „harten“ Welt behaupten müssen.
- Wir lernen, so unvoreingenommen wie möglich zu sein.
- Wir lernen, uns ein eigenes Verständnis von Dingen zu machen und Dinge zu hinterfragen.
- Wir lernen, mutig zu sein und unsere eigenen Wege zu gehen.
- Wir verlernen, von uns und unserem Leben Perfektion zu erwarten und lernen, mögliches von unmöglichem unterscheiden zu können.
- Wir lernen, dass vieles eine Frage der Perspektive ist und wir lernen, uns eigene Perspektiven und Meinungen anzueignen.