Ein ungewöhnlicher Werdegang

Von der Betriebswirtschaftslehre über die Mathematik zur Kinder- und Jugendpsychiatrie

Mercedes Bock ist Kinder-und Jugendpsychiaterin. Sie hat Humanmedizin studiert und sich auf das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert. Heute arbeitet sie am Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulatorium mit Tagesklinik in der Kölblgasse im 3. Bezirk in Wien. Sie ist aber auch studierte Betriebswirtin, Psychologin und Mathematikerin. Und hat eine Psychotherapieausbildung.

Warum hat sie sich schlussendlich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie entschieden? „Ich habe zunächst Internationale Betriebswirtschaftslehre studiert und auch in diesem Bereich gearbeitet. All das war allerdings an einem wesentlichen Interesse –  dem Verstehen und Unterstützen von Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten und Lebensherausforderungen – vorbei. So habe ich mich mit Mitte 20 gezielt für ein Medizinstudium entschieden, um Kinder- und Jugendpsychiaterin zu werden. Wenn ich so zurückschaue, würde ich diese Entscheidung genauso wieder treffen“, sagt sie heute.

Beitrag zur Entstigmatisierung

Bei ihrer Tätigkeit liebt sie die Spannung und Abwechslung. „Es geht um die Gestaltung eines gemeinsamen Prozesses mit Kindern und Jugendlichen, aber auch deren Umfeld, und das in Zusammenarbeit mit verschiedenen Berufsgruppen. In unserem Fach gibt es sehr viele Möglichkeiten an innovativen Konzepten mitzuarbeiten und diese weiter zu entwickeln.“ Sie sieht es aber auch als eine ihrer Aufgaben, einen Beitrag zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zu leisten, denn diese sei weiterhin sehr hoch. „Das spiegelt sich in festgefahrenen Meinungen, aber auch in entwertenden Ratschlägen an Kinder und Jugendliche wider (zB „lass den Blödsinn sein“, oder „streng dich mehr an“)“, stellt sie fest.

Hohe emotionale Anforderungen

Wird sie nach den größten Herausforderungen gefragt, fallen ihr zunächst die hohen emotionalen Anforderungen ein. Wie auch in vielen anderen Berufen im Gesundheits- und Sozialbereich, sind auch im Umfeld der Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiegend Frauen tätig, die oftmals auch in ihrem persönlichen und außerberuflichen Umfeld intensive Leistungen erbringen müssen. Die Koordination im multiprofessionellen Team und die Kooperationen im Umfeld der Patient*innen bezeichnet Bock als eine der schönsten Facetten des Berufs, gleichzeitig aber auch als eine sehr herausfordernde, gerade auch logistisch.

Was muss man eigentlich mitbringen, um Kinder- und Jugendpsychiaterin zu werden? Für Bock, die vieles studiert und in mehreren Bereichen gearbeitet hat, sind Kreativität, Spontaneität und Flexibilität entscheidend. Gleichzeitig benötigt man eine gewisse innere Ruhe, Neugierde und Offenheit immer wieder, durchaus auch konfrontativ, über sich selbst nachzudenken, meint sie.

Mercedes Bock, Kinder- und Jugendpsychiaterin

Warum wir Dinge auch VERLERNEN müssen

Ein Essay von Anita Ruhm

Von klein auf beginnen wir zu lernen, durch eigene Erfahrung oder durch andere, die uns etwas beibringen. Es beginnt mit dem Krabbeln, Laufen lernen und mit dem Sprechen. Dann werden wir eingeschult, lernen zu lesen und zu rechnen und zu schreiben. Das sind ein paar grundlegende und offensichtliche Dinge, die wir in einem jungen Alter lernen und die uns ein Leben lang begleiten. Wir lernen aber auch weniger offensichtliche Dinge, wie zum Beispiel uns selbst anzuziehen, mit anderen Kindern zu spielen und kommunizieren, oder welches Essen uns gut schmeckt.

Später lernen wir vielleicht eine fremde Sprache, wie man ein Auto fährt oder eine Sportart. Egal in welchem Alter wir uns befinden, wir hören nie auf, etwas Neues zu lernen. Überleg mal: vielleicht hast du dir vor kurzem eine neue App heruntergeladen und kanntest dich im ersten Moment noch nicht aus, aber nach ein paar Minuten Orientierung wusstest du plötzlich wie du dich auf der App zurechtfinden kannst. Vielleicht hast du ein neues Rezept ausprobiert und hast jetzt gelernt, ein neues Gericht zu kochen. Oder du hast gerade gelernt, wie man die Miete richtig überweist.

Wie viel von dem was wir lernen, geschieht eigentlich „unabsichtlich“, unbewusst und prägt sich dennoch tief in unsere Psyche ein?

Anita Ruhm

Aufhören, etwas Neues zu lernen ist fast schon unmöglich. Wir lernen so unendlich viel, dass uns gar nicht bewusst ist, wie viel und was wir eigentlich lernen. Und genau hier ist der springende Punkt: Wie viel von dem was wir lernen, geschieht eigentlich „unabsichtlich“, unbewusst und prägt sich dennoch tief in unsere Psyche ein? Wir lernen nicht nur Fähigkeiten, sondern auch Verhaltensweisen, Gedanken oder Annahmen, die uns emotional ganz stark beeinflussen. Und gerade negative Eindrücke oder Erfahrungen prägen sich dabei am stärksten ein und verursachen, dass wir etwas negativ Gefärbtes lernen, wie eine Annahme über uns selbst oder über die Welt. Etwas, das vielleicht gar nicht stimmt und auch schwer richtigzustellen ist. In diesem Video unterscheide ich hier zwischen solchen Annahmen und Erfahrungen auf einer persönlichen und einer etwas größeren, sagen wir „kollektiven“ Ebene, die natürlich beide zusammenhängen und sich beeinflussen, etwas das wir auf kollektiver Ebene lernen, wird uns auch persönlich beeinflussen.

Persönliche Erfahrungen, die sich auf unser Leben auswirken können so entstehen: Stell dir ein Kind vor, das nur gelobt wird, wenn es gute Noten mit nach Hause bringt und dem von auf klein auf suggeriert wird, es muss Karriere machen und ganz viel Geld verdienen usw. Was passieren wird, ist dass dieses Kind lernt, den eigenen Selbstwert von Leistung abhängig zu machen und sich innerlich nur zufrieden fühlt, wenn es etwas geleistet hat. Ein Kind, das wegen seines Aussehens von Gleichaltrigen gemobbt wird, lernt irrtümlicherweise, dass es nicht schön ist, dass es „anders“ ist und nicht dazugehört. Eine Person, die als Kind von ihren Eltern im Stich gelassen wurde, könnte als Erwachsener lernen, sich nur auf sich selbst zu verlassen und wird vielleicht Probleme haben, sich auf Beziehungen einzulassen.

Auf kollektiver Ebene passiert so etwas auch

Seien es die Medien, die einem ständig makellose Menschen mit ihren scheinbar perfekten Leben vorführen und ein kaum erreichbares Schönheitsideal erzeugen oder völlig falsche Vorstellungen davon, wie ein realistisches Leben aussieht. Oder die unsichtbare Zeitleiste mit den Meilensteinen, die jede Person in einem gewissen Zeitraum erreichen muss. Sei es die Gesellschaft, die einem eine Norm zu fast allem aufdrängt und jeder Person, die davon abweicht, das Gefühl gibt, abnormal zu sein. Sei es die Kultur, die uns auf Trab hält und ständig sagt, schneller, besser, mehr, bis wir im Burnout landen.

Vieles was wir auf kollektiver Ebene lernen, ist eine vorgefertigte Meinung unserer Gesellschaft, Kultur oder der Medien oder von allem zusammen. Manches davon scheint aber in unseren Köpfen schon fast eingebrannt zu sein. Es erfordert Mut und Geduld, diese Gedanken zu hinterfragen und zu ändern.

Es ist schade, dass wir so viel über uns, andere, oder die Welt lernen, was negativ gefärbt ist oder was das Ergebnis einer schlechten Erfahrung oder ungünstigen Perspektive ist. Wenn jemand irrtümlich durch eine prägende Erfahrung gelernt hat, nicht „ok“ oder nicht liebenswert zu sein, kostet es doppelt so viel Anstrengung, diese Annahme zu VERLERNEN und sich dann klarzumachen, dass er okay ist. Doppelt so viel als wie, wenn er von Beginn an gelernt und gewusst hätte, dass er so wie er ist, in Ordnung ist.

Lernen zu verlernen

Genauso wie wir Mühe und Zeit darin investieren, Neues zu lernen, sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, die wir loslassen und Verlernen müssen. Also das Beste, was wir tun können, ist, uns darüber klar zu werden, ob es in unseren Köpfen etwas gibt, das weder uns noch der Welt zum Besseren dient und wie wir es in eine günstigere Richtung ändern können

Hier sind einpaar Dinge die wir verlernen können und im Gegenzug neu lernen können:

  • Wir lernen, uns selbst bedingungslos zu lieben und zu akzeptieren. Wir verlernen, unser Selbstwertgefühl von äußeren Instanzen oder Bedingungen abhängig zu machen.
  • Wir lernen, anderen Menschen und uns selbst zu vergeben und versuchen, sie und uns selbst zu verstehen. Wir verlernen, zu grollen oder zu verurteilen.
  • Wir lernen, uns selbst als vollständige Menschen samt Stärken und Schwächen zu sehen. Wir verlernen, uns keine Fehler oder Schwächen zugestehen zu dürfen.
  • Wir lernen, autonome Menschen zu sein, die sich selbst glücklich machen dürfen. Wir verlernen, unser Glück abhängig von anderen Personen zu machen.
  • Wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten und uns zu geben, was wir brauchen.
  • Wir lernen, uns selbst und der Welt zu vertrauen, und darauf, dass wir auf unser Schicksal selbst Einfluss nehmen können. Wir verlernen, immer vom Schlechtesten auszugehen und davon, dass wir uns in einer „gefährlichen“ oder „harten“ Welt behaupten müssen.
  • Wir lernen, so unvoreingenommen wie möglich zu sein.
  • Wir lernen, uns ein eigenes Verständnis von Dingen zu machen und Dinge zu hinterfragen.
  • Wir lernen, mutig zu sein und unsere eigenen Wege zu gehen.
  • Wir verlernen, von uns und unserem Leben Perfektion zu erwarten und lernen, mögliches von unmöglichem unterscheiden zu können.
  • Wir lernen, dass vieles eine Frage der Perspektive ist und wir lernen, uns eigene Perspektiven und Meinungen anzueignen.

Download Essay “Warum wir Dinge auch VERLERNEN müssen”

gay and transgender pride flags waving on the sky

Psychische Gesundheit unter dem Regenbogen

Beitrag erschien ursprünglich in Lambda Nachrichten März 2021

Genau 50 Jahre ist es her, dass gleichgeschlechtliche Liebe in Österreich legalisiert wurde. Und eine ganze Menge hat sich seit 1971 verändert. Heute haben wir die Ehe für homosexuelle Paare, Antidiskriminierungsgesetze zumindest in der Arbeitswelt und trotz aller bestehender Probleme das grundsätzliche Recht auf einen dritten Geschlechtseintrag. Doch in einer wichtigen Frage ist leider noch bei weitem nicht so viel weitergegangen in den letzten 50 Jahren: Bei der psychischen Gesundheit der LGBTIQ-Community.

Als schwuler Mann erlebe ich selber Tag für Tag, was für ein immenses Stigma es auch heute noch gibt, wenn es darum geht, in unserer Community über psychische Gesundheit zu reden. Und obwohl es dazu bei weitem nicht genug Studien gibt, wissen wir, dass psychische Erkrankungen gerade für Schwule, Lesben, Bisexuelle und ganz besonders transidente und intergeschlechtliche Menschen noch immer ein riesiges Thema sind. Die Auswirkungen davon erleben wir in unserem Freundeskreis, bei unseren Bekannten und manchmal sogar in der eigenen Beziehung.

Mehr denn je geht es für alle von uns nicht nur darum, auf unsere eigene psychische Gesundheit zu achten, sondern auch andere in unserer Community zu unterstützen. Der beste und einfachste Weg dazu: Das offene, tabulose Gespräch starten und gemeinsam das Stigma rund um psychische Erkrankungen überwinden.

Ewald Lochner

Die Corona-Krise und damit die Lockdowns, das Fehlen von Safe Spaces und das Wegfallen von sozialen Kontakten … all das hat die Situation in den letzten Monaten noch akuter gemacht. Mehr denn je geht es für alle von uns nicht nur darum, auf unsere eigene psychische Gesundheit zu achten, sondern auch andere in unserer Community zu unterstützen. Der beste und einfachste Weg dazu: Das offene, tabulose Gespräch starten und gemeinsam das Stigma rund um psychische Erkrankungen überwinden.

Warum ist psychische Gesundheit so ein wichtiges Thema?

Angst, Stress und Ausgrenzung. All das erlebt unsere Community auch im Jahr 2021 und auch in einer Stadt wie Wien immer noch. Trotz aller Fortschritte, die wir gemacht haben, leben wir in einer Welt, die sich in weiten Teilen an heteronormativen Idealen orientiert. Auch wenn viele von uns inzwischen das Glück haben, in Familien aufzuwachsen, die ihre sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität akzeptieren und ein sicheres Umfeld bieten, erleben wir im Alltag noch immer Ausgrenzung oder Diskriminierung. Und allein die Angst davor – die Unsicherheit, wenn man die Hand der Freundin oder des Freundes in der Öffentlichkeit hält – führt zu immensem psychischen Druck. Andere erleben leider auch in ihrem engsten Umfeld auf schmerzhafte Weise, was es bedeutet, nicht als die Person akzeptiert zu werden, die man ist.

All das führt dazu, dass Menschen in der LGBTIQ-Community mit besonderen Belastungen konfrontiert sind, wenn es um ihre psychische Gesundheit geht. Der Begriff „Minderheitenstress“ beschreibt dieses Phänomen. Kurz gesagt geht es dabei um den alltäglichen Stress, den Gruppen wie unsere Community, die noch immer von Marginalisierung betroffen sind, erleben – bewusst oder unbewusst. Dazu gehören sowohl wirklich erlebte Diskriminierungen im persönlichen Leben als auch die Angst vor Ablehnung, blöden Kommentaren oder sogar Gewalterfahrungen. Das konstante „im Hinterkopf behalten“ der Möglichkeit, dass etwas aufgrund unserer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität passieren könnte, führt in vielen Fällen schlicht und einfach zu chronischen Stresserfahrungen, die unseren Alltag einschränken. Dazu kommen auch Phänomene innerhalb der eigenen Community, die Druck auf uns machen – von unrealistischen Körperidealen bis hin zu Rassismus, Sexismus und Transphobie auch in unseren eigenen Reihen.

Klar ist natürlich, dass jede* und jeder* von uns solche Erfahrungen ganz persönlich erlebt. Für viele ist das vor allem in einer weltoffenen Stadt wie Wien vielleicht kein großes Problem und sie denken gar nicht viel darüber nach, ob ihnen Ausgrenzungen widerfahren könnten. Und das ist eine gute Entwicklung. Nichtsdestotrotz sollten wir alle, egal wie sicher und „angekommen“ wir uns fühlen, von Zeit zu Zeit innehalten und darüber nachdenken, wie es uns geht. Denn das vorhandene Datenmaterial zeigt immer noch, dass unsere Community von psychischen und psychosozialen Problemen deutlich öfter betroffen ist, als die Gesamtbevölkerung.

In zahlreichen Fällen wirkt sich dieser Stress auf eine erhöhte Zahl von Depressivität oder Angststörungen, in besonders intensiven Fällen durch vermehrten Drogenkonsum oder Suizidalität. Eine US-Studie hat in diesem Zusammenhang  die Frage von Resilienz untersucht, also unsere Fähigkeit, mit all den beschriebenen Stressfaktoren umzugehen. (1) Die Forscher*innen haben gezeigt, dass gerade für junge Menschen in der LGBTIQ-Community der Stress durch Outing und die Beurteilung durch ihr Umfeld besonders häufig zu Depressionen und Angsterfahrungen führen kann. Klar geworden ist auch, dass Unterstützung aus der Community, Safe Spaces und sensibilisierte Personen im Bildungs- und Gesundheitswesen gerade für diese Gruppe einen enormen Unterschied machen– sowohl in Hinblick auf ihre psychische Gesundheit als auch auf ihren Alltag. Resilienz kann aufgebaut und gestärkt werden, Herausforderungen können zur Chance werden und damit eine Möglichkeit bieten, die eigene psychische Gesundheit auch als Erwachsene in den Fokus zu rücken.

Die Pandemie ist eine Herausforderung für alle von uns

Vor dem Hintergrund der alltäglichen Erfahrungen, die unsere Community seit Jahrzehnten begleiten, stellt die Corona-Pandemie seit fast einem Jahr natürlich eine ganz besondere Herausforderung dar. Lockdown und geschlossene Schulen, der Wegfall von Community-Treffpunkten, von Vereinszentren und Szene-Lokalen haben das Leben von vielen ordentlich eingeschränkt. Weltweit und auch in Österreich mussten vor allem junge, queere Menschen oft verstärkt Zeit in familiären Umfeldern verbringen, die nicht von Akzeptanz geprägt waren. Supportsysteme wie Jugendgruppen und Vereinsabende fielen weg oder verlagerten sich in den digitalen Raum. Unterstrichen wurde dieser besorgniserregende Befund schon im April 2020 von der Menschenrechtskommissarin der UNO, Michelle Bachelet, die vor den besonderen Auswirkungen der Corona-Krise auf die weltweite LGBTIQ-Community warnte.

Forscher*innen aus London sprechen in einer Befragung daher von einer „Krise der psychischen Gesundheit“ innerhalb unserer Community durch die Pandemie. (2) Allein das Verstecken der eigenen Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung im Familienumfeld führe in vielen Fällen zu besonderem Stress. In der „Queerantäne-Studie“ berichten die Befragten von erlebter Homo- und Transphobie, depressiven Episoden und erhöhtem Gebrauch von Suchtmitteln.

Diese und andere Studien zeigen, dass unsere Community verstärkt unter einem Trend leidet, der die ganze Bevölkerung trifft – die besondere psychosoziale Belastung durch Pandemie und Lockdowns. In Wien haben wir mit einer Vorreiter-Studie schon im Frühjahr 2020 erhoben, dass ein Viertel der Wiener*innen durch die Pandemie eine spürbare Verschlechterung der eigenen psychischen Gesundheit erlebt hat. 40 Prozent der Befragten erlebten Ängstlichkeit und Lustlosigkeit, rund ein Drittel berichtete von Hoffnungslosigkeit und mehr als jede*r Zehnte musste schwere Konflikte im Familienumfeld mitmachen. Besonders betroffen von all dem sind Gruppen, die auch unter wirtschaftlicher Ungleichheit, Jobverlust und Druck am Arbeitsmarkt leiden. All diese Phänomene, das zeigen uns internationale Studien, treffen unsere Community in der Pandemie besonders stark.

Darüber reden hilft

Unter dem Motto „Darüber reden wir“ haben die Psychosozialen Dienste in Wien vor eineinhalb Jahren eine Kampagne gegen das Stigma rund um psychische Erkrankungen gestartet. Der Titel klingt simpel – gerade in der aktuellen Krise ist er aber die wichtigste Perspektive, wenn es um die psychische Gesundheit unter dem Regenbogen geht!

Der beste Start, um Stress und psychische Belastungen anzupacken, ist durch das offene, tabulose Gespräch – sowohl für uns selbst als auch für unsere Freund*innen. Nur indem wir in unserem Umfeld darüber sprechen, wie es uns geht, können wir verhindern, dass Probleme zu ausgewachsenen Krisen werden. Das bedeutet aber auch, um Hilfe zu fragen, wenn wir sie brauchen und Menschen in unserem Umfeld dabei zu unterstützen, wenn nötig Hilfsangebote anzunehmen.

Psychische Erkrankungen sind Krankheiten. Wenn wir sie ignorieren, können sie schlimmer oder sogar chronisch werden … so wie alle anderen Krankheiten auch. Wenn wir aber unser eigenes psychisches Wohlbefinden ernst nehmen, offen darüber reden und Unterstützung suchen, wenn wir sie brauchen, dann kann das unseren Alltag und unsere Leben zum Besseren verändern.

Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenhilfe der Stadt Wien

Studien:

Ein Brief an die Gesellschaft

Hallo Gesellschaft,

Ich hoffe ihr seid gesund. Wenn ihr ein bisschen Zeit habt, bitte hört mir mal zu.

Dieses Wort “Gesellschaft” ist ein komisches Ding. Man lernt sehr früh in der Schule, dass der Mensch, sowie viele andere Lebewesen, ein Gesellschaftswesen ist, dass die Gesellschaft, die vielen einzelnen Menschen zusammenhält und deren Überleben sichert… es sollte also etwas sehr positives und Wichtiges sein. Wieso hinterlässt dieses Wort dann so einen üblen Nachgeschmack, wieso jagt es einen Schaudern meinen Rücken runter?

Die Gesellschaft ist eine Ordnung oder Struktur, in die sich die Teilnehmer*innen nach einigen festgelegten, und noch viel mehr ungeschriebenen Regeln einfügen. Allen wird ein Wert zugeordnet, es wird beobachtet und geurteilt nach sozialem Geschick, Produktivität, Aussehen. Wer selbstsicher auftritt und spricht, wer viel Energie, Entschlossenheit und Tatkräftigkeit demonstriert, diese Person ist erfolgreich.

Was ist mit mir?

Ich bin autistisch und habe eine Angststörung.
Soziales Geschick habe ich nur sehr wenig. Ich würde zwar gerne kommunizieren und meine Welt mit anderen teilen, jedoch kommt es zu oft zu Missverständnissen, meine Empfindlichkeit auf Sinneseindrücke, meine unkonventionelle Bewegungen und Tonfall oder beschränktes Interessenbereich wird meinen Gesprächspartner lästig.
Produktivität? Manchmal ist es schon ein großer Sieg, dass ich aus meinem Bett gekrochen bin und die Haustiere gefüttert habe. Ich habe schon einige Male versucht, eine Ausbildung oder Studium zu absolvieren oder Arbeit zu verrichten, immer zum selben Ergebnis. Ich stoße auf Aufgaben, Erwartungen und Druck, die für andere als normaler Teil des Lebens gelten, für mich jedoch als unüberwindbare Hürden darstellen. Die Angst nimmt zu, lähmt mich, macht mich physisch krank. Der Auslöser wird verdrängt und mein Gehirn weigert sich, dessen Existenz anzuerkennen. So scheitere ich natürlich an der Aufgabe, erfülle die Erwartung nicht und kriege die angedrohten Konsequenzen.
Es ist geistestötend, dass alle meine Bemühungen, um irgendwie mitzuhalten, letztendlich bestraft werden. Auch wenn ich aufgebe, wird es bestraft mit Drohung von Armut, Hunger, Obdachlosigkeit.
Bin ich denn so viel weniger wertvoll?

„Nein nein, natürlich nicht, und was sagst du denn da überhaupt, deine Probleme sind doch gar nicht ernst. Du siehst echt normal aus, sogar vertrauenserweckend wenn du dich nicht so schlampig kleidest. Du musst dich nur ein bisschen zusammenreißen, dann wirst du sehen, du kannst alles schaffen was du möchtest.“

So oft höre ich diese Antwort. Es sagt mir, es wurde mir erneut nicht zugehört. Es sagt mir, ich bin nicht wertvoll, ich bin nur akzeptabel, wenn meine Schwierigkeiten hinter einem annähernd erwartungsgemäßen Aussehen verdrängt werden können.

Ich kann nicht mehr.
Ich kann nicht mehr verdrängen, ich kann nicht mehr vorgaukeln, dass alles in Ordnung ist.

„Stell dich nicht so an, du lebst doch in einer ziemlich privilegierten Situation, du hast doch bis jetzt keine Anzeichen von Probleme gezeigt, du brauchst keine Hilfe, du würdest nur den Platz von einen schwer kranken Menschen nehmen, du würdest deine Karrierechancen schaden, wenn jemand rausfindet dass du eine Therapie machst.“

Hallo Gesellschaft,

Ich hoffe ihr seid gesund. Wenn ihr ein bisschen Zeit habt, bitte hört mir mal zu.
Das ist mein einziger Wunsch.
Ich bin sicher, ich bin damit nicht alleine.

Es kann so ein großer Unterschied sein, zu hören: Ich verstehe, dass du Angst hast, dass du traurig bist, dass du überlastet bist. Ich finde dich wertvoll. Ich werde dir helfen, oder dich unterstützen, um angemessene Hilfe zu finden.

Das sollte die Funktion der Gesellschaft sein.

M.

Interview mit Lisa Kainzbauer

Ver-rückte Welt. Wie sich Schizophrenie anfühlt.

Von Lisa Kainzbauer und Brigitte Maresch  

Mit ihrem Buch, das im März 2021 erschienen ist, wollen die Autorinnen aufklären, das Stigma rund um psychische Erkrankungen, insbesondere Schizophrenie, aufbrechen. Die 208 Seiten enthalten bewegende Erzählungen von Erfahrungsexpert:innen, Angehörigen und Betreuenden. Zudem finden sich darin beeindruckende Fotografien und inszenierte Darstellungen, die die Symptomatik der Schizophrenie veranschaulichen und einen an der Erlebniswelt der Erkrankung teilhaben lassen.

Zum Buch: https://www.facultas.at/item/46375992  

Wieso ist es euch so wichtig, über psychische Gesundheit zu sprechen?

Lisa Kainzbauer: Die Stigmatisierung rund um diesen Themenkomplex ist leider nach wie vor groß. Immer wieder höre ich, wie es als Beschimpfung gemeint ist, wenn jemand als „schizophren“, „verrückt“ oder „wahnsinnig“ bezeichnet wird. Aber auch strukturelle Stigmatisierung ist ein großes Problem. Wer eine psychische Erkrankung hat, redet oft nicht darüber, schon gar nicht im Job. Hinzu kommt, dass Menschen mit psychischer Erkrankung häufig armutsgefährdet sind, sie sind tendenziell öfter im Krankenstand und das verträgt sich nicht mit einer Gesellschaft, in der es die oberste Prämisse ist zu „funktionieren“. Da hat das Thema „psychische Gesundheit“ wenig Platz.  

Wieso ausgerechnet Schizophrenie?

Lisa Kainzbauer: Meine Mutter hat Schizophrenie und ich habe eigentlich nie so wirklich verstanden, wie das für sie ist und was sie in ihrem Alltag wahrnimmt. Als ich klein war, waren ihre Psychosen noch nicht so ausgeprägt und haben nach außen eher wie depressive Phasen gewirkt. Als ich ca. 15 Jahre alt war, hörte meine Mutter aber auf, ihre Medikamente zu nehmen, was auch einen erheblichen Einfluss auf die Schwere ihres Krankheitsverlaufs und auch auf mein Leben mit ihr hatte. Ich erkannte sie plötzlich nicht wieder und konnte absolut nicht nachvollziehen, was da in ihr vorging. Im Zuge unserer Diplomarbeit für „die Graphische“ versuchten Brigitte Maresch und ich dann Antworten zu finden. Wir versuchten ein möglichst perspektivenreiches Bild zu erlangen, führten Interviews, lasen wissenschaftliche Literatur und bekamen immer mehr mögliche Antworten. Diese Einblicke waren dann auch die Basis für die Fotos und Illustrationen, die sich im Buch finden.  

Wer sind die Menschen, die in eurem Buch ihre Geschichten erzählen?

Die Menschen in unserem Buch haben alle selbst in irgendeiner Form Erfahrungen mit Schizophrenie. Entweder sind sie selbst durch eine Diagnose betroffen, sind Angehörige oder Betreuende. Sie alle haben sehr unterschiedliche Standpunkte und Erfahrungen, die sich nur teilweise miteinander decken und gut zeigen, wie unterschiedliche jede Geschichte, jede Perspektive und jede Erfahrung mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis ist.  

Wie verbindest du Fotografie mit dem Thema?

Fotografie ist mein Medium um mich als Künstlerin auszudrücken. Das ist für diese Thematik gar nicht so einfach, denn es fallen akustische Elemente weg, die für die Erkrankung doch häufig Relevanz besitzen. Das hat mich oft herausgefordert, andere Wege zu finden um den Zuseher:innen dennoch die Möglichkeit zu geben, in eine unbekannte Welt einzutauchen. Das Ziel der Fotografien im Buch ist es, Eindrücke zu verstärken oder zusätzliche Impressionen zu erzeugen, die vielleicht durch die bloßen Worte ausbleiben würden.  

Was hofft ihr, mit der dem Buch zu bewirken?

Wir wollen eine neue Perspektive zur Diskussion beitragen. Es gibt viel wissenschaftliche Literatur, in der Professionist:innen schildern, wodurch sich Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis auszeichnen. Diese Schilderungen sind durchaus wichtig. Ich habe aber immer Einblicke vermisst, die mich auch auf emotionaler Ebene verstehen lassen, was da in meiner Mutter vorgeht und mich auch ein wenig darauf vorbereiten, was es abseits der theoretischen Seite zu wissen gibt. Es wäre schön, wenn auch außenstehende Personen durch das Buch einen besseren Einblick in diesen Themenkomplex erlangen. Außerdem wäre es wunderbar, wenn Menschen, die mit dieser Erkrankung konfrontiert sind, mehr respektiert werden. Das Leben mit Schizophrenie kann sowohl für die Betroffenen als auch die Angehörigen eine unglaubliche Herausforderung sein. Nicht darüber reden zu dürfen aus Angst, diskriminiert zu werden, ist nicht in Ordnung.  

“Ich habe aber immer Einblicke vermisst, die mich auch auf emotionaler Ebene verstehen lassen, was da in meiner Mutter vorgeht und mich auch ein wenig darauf vorbereiten, was es abseits der theoretischen Seite zu wissen gibt.”

Was ärgert dich denn besonders, wenn es ums Thema psychische Erkrankung geht?

Lisa Kainzbauer: Am meisten ärgert es mich, wie viel Kraft es generell aber auch mich persönlich kostet, Menschen aufzuklären. Es ärgert mich, wenn jemand auf der Straße an mir vorbeiläuft und widersprüchliches Verhalten eines Menschen fälschlicherweise als „schizophren“ bezeichnet. Es regt mich auf, wenn ich Filme sehe, in denen das Krankheitsbild überdramatisiert und völlig verzerrt dargestellt wird. Das schürt Angst und das aus den Köpfen der Menschen wieder heraus zu bekommen ist ein Kraftakt. Menschen, die sich ohnedies für die Thematik interessieren, sind leichter zu erreichen, aber jene, die sich nicht aktiv über Themen wie „psychische Gesundheit“ informieren, erreicht man nur schwer und so kann der Stigmatisierung leider nur schwer entgegengewirkt werden.  

Was wünscht du dir von der Gesellschaft?

Lisa Kainzbauer: Meine Wünsche richten sich vor allem an die Politik: Ich möchte, dass Menschen mit psychischer Erkrankung in einem gesicherten Rahmen Beschäftigungen nachgehen können und nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Ich wünsche mir, dass es großflächige staatlich geförderte Aufklärungskampagnen gibt. Ich will, dass Psychotherapie ausnahmslos von der Krankenkasse gezahlt wird. Wenn all das passiert, denke ich, dass viel leichter eine positive öffentliche Diskussion stattfinden kann. So kann die Gesellschaft auch die Chance bekommen, aus diesen Maßnahmen zu lernen. Solange wir uns aber im selben Rad bewegen, ist es schwierig neue Wege zu gehen.

Ich bin mehr als meine psychische Erkrankung

Depression, Angsterkrankung oder Schizophrenie – psychische Erkrankungen haben großen Einfluss auf das Leben von Betroffenen, aber auch auf ihre Familien, ihre Freund*innen und ihr ganzes Umfeld.

Menschen, die davon betroffen sind, sind aber mehr als ihre psychischen Erkrankungen: Wir sind Schüler*innen, Studierende, Mamas & Papas, Omas & Opas, Arbeitskolleg*innen, Partner*innen, Aktivitist*innen, Sportler*innen, Künstler*innen und vieles mehr.

Um darauf aufmerksam zu machen, sind ab heute unsere Plakate auch wieder überall in Wien für 2 Wochen zu sehen. Wenn ihr ein Plakat seht, schickt uns doch ein Foto oder markiert uns @darueberredenwir auf Facebook & Instagram.

Ich bin mehr als meine Angsterkrankung
Ich bin mehr als meine Depression
Ich bin mehr als meine Schizophrenie

Frauen in der Corona-Krise

Über psychosoziale Belastungen, Ressourcen und was es jetzt (und auch sonst) braucht. 

Autorinnen: Mag.a Dr.in Eva Lehner-Baumgartner, MBA & Dipl.-Psych.in Dr.in Susanne Schütt. Artikel erschien in SPECTRUM PSYCHIATRIE 4/2020.

Ohne Frauen wäre die Bewältigung der COVID-19-Pandemie nicht möglich. Frauen sind die Systemerhalterinnen in der Krise – überhaupt in unserer Gesellschaft – und leisten neben ihrem Beruf den Großteil der familiären Care-Arbeit.1

Neben Haushalt, Kinderbetreuung, Versorgung pflegebedürftiger und/oder älterer Angehöriger zählt seit neuestem  Homeschooling (auch in AkademikerInnenfamilien bzw. bei Familien mit zwei Einkommen, selbst wenn beide Elternteile im Homeoffice sind!) zu ihren Aufgaben; sie arbeiten in „systemrelevanten“ Berufen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich sowie im Lebensmittelhandel und in der Reinigungsbranche (mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten sind Frauen). Doch unsere Systemerhalterinnen und Care-Arbeiterinnen machen das alles meist schlecht(er) bezahlt oder gar unbezahlt, häufig in Teilzeit und in prekären abhängigen Beschäftigungs bzw. Lebensverhältnissen: willkommen im 21. Jahrhundert …

Verschärfung frauenspezifischer psychosozialer Belastungen

Spätestens seit der Corona-Krise, besonders in Lockdown-Zeiten, haben sich bereits bestehende frauenspezifische Probleme massiv verschärft.2 Die spezifischen psychosozialen Belastungen, die sich vor allem auf die psychische Gesundheit von Frauen negativ auswirken, lassen sich in drei Bereiche unterteilen:

  • erhöhte soziale Belastungen
  • erhöhte ökonomische Belastungen
  • Gewalterfahrungen

Frauen sind als unbezahlte Care-Arbeiterinnen, zumal sie auch häufiger Alleinerzieherinnen sind, Mehrfachbelastungen ausgesetzt (Beruf, Haushalt, Erziehung, Betreuung und Versorgung der Kinder bzw. Angehörigen, Homeschooling, reduzierte soziale Unterstützung v. a. durch Großeltern, geschlossene Betreuungs-/Bildungseinrichtungen). Die letzte Untersuchung zur Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit von Frauen und Männern in Österreich stammt aus dem Jahr 2008/2009: Zwei Drittel der unbezahlten Arbeit wird von Frauen verrichtet! 

Es ist höchste Zeit für eine neue Zeitverwendungserhebung (für ein neues Sichtbarmachen unbezahlter Arbeit!); diese ist für 2021 in den meisten europäischen Ländern geplant, so nun auch in Österreich.3 Hinzu kommt, dass Frauen als schlecht(er) bezahlte Systemerhalterinnen in „systemrelevanten“ Berufen zusätzlich von höheren körperlichen und psychischen Belastungen betroffen sind – so wie aktuell in der Corona-Krise von höheren Infektionsrisiken. In Krisenzeiten steigen insgesamt das Arbeitsausmaß bzw. die Belastung bezahlter wie unbezahlter Arbeit unter anderem dadurch, dass frauendominierte Berufsfelder (wie der Lebensmittelhandel oder das Gesundheitswesen) als systemrelevant eingestuft und damit zu einer höheren Arbeitsbelastung bei gleichzeitiger familialer Care-Arbeit geführt haben. 

Umgekehrt wurden während der Lockdown-Phasen Wirtschaftsbereiche, in denen viele Frauen tätig sind, wie z. B. persönliche Dienstleistungen (Friseur, Kosmetik) oder jene Teile des Einzelhandels, die nicht als systemrelevant eingestuft wurden, geschlossen, und Frauen waren daher häufiger von Kurzarbeit, damit verbundenen Einkommenseinbußen sowie von (anhaltender oder neu auftretender) Arbeitslosigkeit betroffen. Der zweite Aspekt führt zu einer Verstärkung des Armutsrisikos von Frauen. 

Ebenso steigt das für Frauen bereits vor der Corona-Krise bestehende höhere Gewaltrisiko zusätzlich, und ihre Abhängigkeit verstärkt sich. Vor allem in Lockdown-Phasen sind Frauen (und Kinder!) häufiger häuslicher Gewalt ausgesetzt.4

Folgen frauenspezifischer psychosozialer Belastungen

Alle genannten psychosozialen Belastungen erhöhen das Risiko, sowohl psychisch als auch körperlich zu erkranken, bzw. das Risiko einer Verschlechterung vorbestehender Erkrankungen. Erste Studien weisen auf ein erhöhtes Auftreten von bzw. Risiko für Ängste, Depressionen, Erschöpfung und Stress sowie Schlafstörungen bei Frauen in der Gesamtbevölkerung hin. Hinweise für eine Zunahme von Suiziden bei Frauen (speziell bei jüngeren Frauen) finden sich bisher nur in einer Studie aus Japan.5

Besonders von den genannten psychosozialen Belastungen und deren Folgen (in der Corona-Krise und überhaupt) betroffene Frauen sind:6

  • jüngere Frauen mit kleinen Kindern, v. a. Alleinerzieherinnen (insb.Mehrfachbelastungen, Existenzbedrohung)
  • Frauen mit Migrationshintergrund bzw. Fluchterfahrung, auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (insb. verlorene Existenz, Abhängigkeit und besondere Vulnerabilität für Gewalterfahrung; erhöhtes Infektionsrisiko)
  • arbeits- und wohnungslose Frauen (insb. verlorene Existenz, Einsamkeit/soziale Isolation)
  • alleinstehende ältere Frauen in prekären Lebensverhältnissen bzw. in Wohn-/Pflegeeinrichtungen (insb. erhöhtes Risiko für Ansteckung/schwere Verläufe, Einsamkeit und soziale Isolation)
  • Frauen mit körperlichen und/oder psychischen Erkrankungen (insb. Verschlechterung der Erkrankungen, Gefährdung Behandlungskontinuität, Einsamkeit/soziale Isolation)
  • Frauen in Gesundheitsberufen (insb. erhöhte Arbeitsbelastung, Mehrfachbelastung; erhöhtes Infektionsrisiko)
  • auch junge Frauen bzw. Mädchen, Schülerinnen und Studentinnen (insb. Einsamkeit, Bedrohung/Verlust von Ausbildung) 

Arbeitsassoziierte psychische Belastungen, frauenspezifische Ressourcen und notwendige psychosoziale Maßnahmen Arbeitsassoziierte psychische Belastungen gehen häufig mit einem erhöhten Stresserleben einher und beeinflussen die psychische Gesundheit. Zur Entstehung psychischer und psychosozialer Fehlbelastungen am Arbeitsplatz haben sich drei Modelle etabliert: 1) das Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek und Theorell (1990), das als wesentlichen Belastungsfaktor hohe Arbeitsanforderungen bei geringen Entscheidungs spielräumen nennt; 2) das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen von Siegrist (1996, 2002), welches das subjektiv empfundene Ungleichgewicht zwischen Anforderungen/Leistungen und der wahrgenommenen Gratifikation (Entlohnung, Ansehen, Karrierechancen, Arbeitsplatzsicherheit) als ursächlich sieht; und 3) das Modell der organisatorischen Gerechtigkeit (Tyler, 2000), das Verteilungsgerechtigkeit, Prozessgerechtigkeit und Beziehungsgerechtigkeit als zentrale Dimensionen nennt. Während im letztgenannten Modell die individuellen Merkmale nur als subjektive Wahrnehmung verschiedener Gerechtigkeitsdimensionen erfasst werden, finden in den beiden erstgenannten Modellen die individuellen Ressourcen und Anforderungen außerhalb des beruflichen Kontextes Berücksichtigung.7

Ressourcen können als „gesunderhaltende Kräfte/Quellen“ beschrieben werden (Abb. 1), die im Modell der Salutogenese von Antonovsky (1979, 1987) als wesentlich für die Bewältigung von Belastungen/Herausforderungen (Coping) gesehen werden.8

Abb. 1: Beispiele für psychische Ressourcen

Nach: Antonovsky (1997)

Interne wie externen Ressourcen: Persönliche oder interne Ressourcen sind Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Haltungen und Neigungen, aber auch Erlebnisse und Erinnerungen. Humor, Optimismus, Kreativität, Lösungsorientierung, Achtsamkeit, Selbstwirksamkeit und Akzeptanz sind im Umgang mit belastenden und herausfordernden Situationen hilfreich. Die Fähigkeit, den Blick auf jene Bereiche des Lebens zu lenken, die meist gut bewältigt wurden, und/oder das Bewusstmachen erfolgreich bewältigter Krisen zeichnen resiliente Menschen (Frauen wie Männer!) aus und fördern die Entwicklung neuer Ressourcen. Die Verfügbarkeit und Nützlichkeit persönlicher Ressourcen ist individuum- und situationsspezifisch. Zu den externen Ressourcen zählen soziale, materielle und infrastrukturelle Faktoren. 

Wenn den einströmenden Belastungen keine ausreichend vorhandenen internen wie externen Ressourcen gegenüberstehen, entsteht psychischer Distress (Abb. 2a, 2b).9

a
b

Abb. 2: Ungleichgewicht zwischen Belastungen und Ressourcen (a) und Wiederherstellung des Gleichgewichts (b)

Frauen als familiäre Care-Arbeiterinnen und Systemerhalterinnen – in der Corona-Krise und überhaupt in unserer Gesellschaft – brauchen mehr als einmalige Corona-Prämien und “Blumen“. So fordert z. B. aktuell eine Initiative jüngerer SPD-Frauen in Deutschland unter dem Hashtag #stattblumen10 u. a. die gerechte Verteilung von Care-Arbeit und eine bessere Bezahlung in „systemrelevanten“ Berufen.

Damit Frauen weiterhin die zentrale Ressource in der Krise und darüber hinaus in unserer Gesellschaft sein können, brauchen sie selbst auch Ressourcen. 

Und „Ressourcen haben oder nicht haben“ hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine viel stärkere soziale Komponente. Deshalb geht es nicht nur um individuell wirksame psychosoziale Maßnahmen, sondern auch um eine grundsätzliche Änderung unseres Systems, um eine grundsätzliche Lösung frauenspezifischer Probleme, und dies über die Corona-Krise hinaus.

„Eine Frau, die ihren Job verloren hat und ihre Familie nicht ernähren kann, braucht keine Meditations-App.“ Insgesamt geht es darum, systemische, sozial bedingte Vulnerabilitäten bzw. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nachhaltig zu verändern.11

Wichtige psychosoziale Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen während und nach der Corona-Krise (bzw. überhaupt!):12

  • Sichtbarmachen und Ändern der Mehrfachbelastung und Verteilung von unbezahlter Care-Arbeit innerhalb von Familie und Gesellschaft; Aufwertung und Verbesserung der Bedingungen von (bezahlter wie unbezahlter) Pflege-/Betreuungsarbeit
  • verstärkte zielgruppenspezifische Bewerbung und Finanzierung von psychosozialen Einrichtungen bzw. Hotlines, Frauenhäusern, Frauennotrufen etc.; auch nachgehende Betreuung (durchaus telefonisch!); verbesserte Nutzung von „Frauenorten“ (Kindergärten, Schulen, Apotheken, Supermärkte, Arztpraxen, Krankenhäuser) und Sensibilisierung/Schulung von MultiplikatorInnen, die nahe am Lebensalltag sind und in ihrer beruflichen Tätigkeit viel im Austausch mit Frauen stehen; Online-/Chatangebote (insb. bei Gewalt/beengten Wohnverhältnissen ohne Privatsphäre); bei häuslicher Gewalt auch z. B. Direkthilfe durch Verständigung der Polizei via Codewort in Apotheken, Supermärkten (aktuell in Frankreich, Spanien)
  • Aufbau psychischer Hilfen in allen Betreuungsbereichen, da es hier sowohl um die Bewältigung der Ängste der Betreuenden (zumeist Frauen) als auch der Betreuten (Kinder, Senioren, Erkrankte etc.) geht
  • Durchführung nicht nur psychischer, sondern auch sozialer Maßnahmen – tatsächliche Hilfen im Alltag und keine „Therapeutisierung“ von sozialen Problemen – in Form von: realer Arbeitslastreduktion; finanzieller Soforthilfe (insb. bei Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit; AlleinverdienerInnen/-erzieherInnen); auch Unterstützung von Frauen in Gesundheitsberufen aus dem Ausland; Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie zur Reduktion der Mehrfachbelastung von Eltern; Unterstützung im Umgang mit Kindern sowie im Umgang mit Stress und Konflikten; Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder (insb. bei Kindergärten-/Schulschließungen) wie für ältere Pflegebedürftige; Ermöglichen von Notbetreuung
  • paritätische Besetzung aller politischer Entscheidungsrunden, Beratungsgremien und  ressorts sowie partizipative gesellschaftspolitische Formate und Think Tanks, um die unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedener Lebensrealitäten zu berücksichtigen

Fazit

Zusammengefasst: Frauen brauchen keine „Blumen“. Frauen brauchen mehr bzw. gleiche  Rechte und Bedingungen – in allen Bereichen des Lebens (auch im Sinne eines ganzheitlichen sozialpsychiatrischen Zugangs, der die soziale Dimension von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt):13 in der psychischen und körperlichen Gesundheitsvorsorge/-versorgung, beim Wohnen, beim Arbeiten, in der Ausbildung, beim Freizeitmachen und auch was Angehörige, professionelle HelferInnen, ethische, rechtliche, finanzielle sowie kulturelle Aspekte anbelangt … Und das für alle, immer und überall. 

Quellen

1 King T. et al.: Reordering gender systems: can COVID-19 lead to improved
gender equality and health? The Lancet 2020; 396: 80–1; Yildirim T.M.,
Eslen-Ziya H.: The differential impact of COVID-19 on the work conditions
of women and men academics during the lockdown. Gender, Work &
Organization 2020; Repnik U.: Die Corona-Krise als Frauengesundheits-
krise? Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele der Stadt Wien,
2020; Mader K. et al.: Gender specific effects of Covid-19. WU Vienna,
2020
2 United Nations: Policy Brief: The Impact of COVID-19 on Women. 2020,
New York; Wenham C. et al.: COVID-19: the gendered impacts of the
outbreak. The Lancet 2020; 395: 846–8; Turabian J.L.: Sex and Gender
Bio-psychosocial Differences in Coronavirus Disease 2019: Men have
more Biological Problems, but Women Suffer more Long-Term Serious
Psychosocial Consequences and with more Implications for Population.
Journal of Women’s Health Care 2020; 9: 2167; Czymara C.S. et al.:
Cause for concerns: gender inequality in experiencing the COVID-19
lockdown in Germany. European Societies 2020; 1–14
3 Statistik Austria: Zeitverwendung 2008/09: Ein Überblick über
geschlechtsspezifische Unterschiede. Endbericht der Bundesanstalt
Statistik Österreich an die Bundesministerin für Frauen und Öffentlichen
Dienst (31. 7. 2009); Disslbacher F., Schnetzer M.: Höchste Zeit für eine
Zeitverwendungserhebung! A&Wblog.at, 2019 (https://awblog.at/
zeit-fuer-zeitverwendungserhebung); APA: Frauenbudget steigt,
Zeitverwendungsstudie kommt. Der Standard, 14. 10. 2020
4 Steinert J., Ebert C.: Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland
während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen. 2020, TU
München; Usher K. et al.: Family violence and COVID-19: Increased
vulnerability and reduced options for support. International Journal of
Mental Health Nursing 2020; WHO: COVID-19 and violence against
women. 2020, Genf
5 Mazza C. et al.: A Nationwide Survey of Psychological Distress among
Italian People during the COVID-19 Pandemic. International Journal of
Environmental Research and Public Health 2020; 17: 3165; Pappa S. et
al.: Prevalence of Depression, Anxiety, and Insomnia among Healthcare
Workers during the COVID-19 Pandemic. Brain, Behavior, and Immunity
2020; 88: 901–7; Vindegaard N. et al.: COVID-19 pandemic and mental
health consequences. Brain, Behavior, and Immunity 2020; Liu N. et al.:
Prevalence and predictors of PTSD during COVID-19 outbreak in China
hardest-hit areas: Gender differences matter. Psychiatry research 2020;
112921; Ausín B. et al.: Gender-related differences in the psychological
impact of confinement as a consequence of COVID-19 in Spain. Journal of
Gender Studies 2020; 1–10; Ueda M. et al.: Suicide and mental health
during the COVID-19 pandemic in Japan. 2020 (preprint from medRxiv)
6 Zandonella M. et al.: Zur psycho-sozialen Situation der WienerInnen
während der Corona-Pandemie. SORA-Institut 2020, Wien; Xiong J. et al.:
Impact of COVID-19 pandemic on mental health in the general population.
Journal of Affective Disorders 2020; Braun M. et al.: SARS CoV-2: Mental
Health in Österreich (ausgewählte Ergebnisse zur vierten
Befragungswelle). 2020, MUW
7 Junne F. et al.: Psychische Belastungsfaktoren in der Arbeitswelt: Modelle
und Prävention. Psychother Psych Med 2017; 67: 161–73
8 Antonovsky A.: Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. 1997,
Tübingen: dtv
9 Gilbert-Ouimet M. et al.: Psychosocial work stressors, high family
responsibilities, and psychological distress among women: A 5-year
prospective study. Am J Ind Med 2020; 63: 170–9
10 siehe: www.gleichberechtigung-statt-blumen.de
11 Burgess R.: Covid-19 mental-health responses neglect social realities Nature: World View 2020 (4. 5. 2020)
12 z. B. United Nations, 2020; WHO, 2020; Steinert & Ebert, 2020;
King et al., 2020; Repnik, 2020
13 Psota G.: Zurück in die Zukunft der (Sozial-)Psychiatrie. Spectrum
Psychiatrie 2017; 2: 40–3

Meine Erfahrungen mit Borderline und Depressionen

Mein Name ist Michaela Fink und ich leide bereits mehr als mein halbes Leben an einigen psychischen Erkrankungen.

Die wohl augenscheinlichste Diagnose ist meine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie ist gekennzeichnet durch ein regelmäßiges auf und ab an Gefühlen und einem starken „Schwarz-Weiß“ – Bild. Das heißt ich nehme die meisten Begegnungen, Personen etc. entweder als gut, schön oder als böse, bedrohlich wahr. Eine Graustufung existiert nur selten.

Dazu kommt provokatives und manipulatives Verhalten hinzu. Aber ich bin keine „typische Borderlinerin“ – sofern man von so etwas überhaupt sprechen kann.

Ich schneide und ritze mich kaum, dafür schlage ich öfters meinen Kopf gegen die Wand – aber mir geht es eher mehr darum zu provozieren als mich zu verletzen.

Meine Depressionen können sehr schwer und herausfordernd sein. Für Außenstehende ist es schwierig nachzuvollziehen, wie man so überhaupt keinen Antrieb haben kann.

Ich kam manchmal wochenlang nicht aus meinem Zimmer, schlief viel und war völlig kraftlos. Nicht mal das Haarewaschen oder Zähneputzen schaffte ich in solchen Momenten und jede Kleinigkeit brachte mich zum Heulen.

Schon früh kam ich in Kontakt mit der Psychiatrie. Mir wurden Medikamente verschrieben, von denen ich mit meinen damals 16 Jahren überhaupt keine Ahnung hatte. Ich schluckte sie einfach und bemerkte, dass ich immer mehr davon brauchte, um schlafen zu können.

Schnell geriet ich in eine Abhängigkeit von Beruhigungsmittel, mit der ich bis heute zu kämpfen habe.

Die ganze Symptomatik dürfte auf meine Kindheit zurückzuführen sein, da ich in dieser Zeit kaum „Liebe“ erhalten hatte.  -geschweige denn Umarmungen und sonstige Berührungen.

Ich bin im Burgenland geboren und zog nach meiner (ausgezeichneten) Matura nach Graz um meinen Traum vom Medizinstudium Wirklichkeit werden zu lassen. Ich ging schon immer offen mit meiner Erkrankung um und mein Ziel war und ist es eines Tages Menschen, die Ähnliches durchmachen helfen zu können. Dabei bemühe ich mich sehr dieses Thema zu enttabuisieren. Einen Teil trage ich dazu bei in dem ich einen Blog auf Facebook schreibe (Michaela Fink – Der Blog über mein Leben mit psychischer Erkrankung) – ich freue mich natürlich über jeden Besuch meiner Seite. https://www.facebook.com/MichaelaFinkBlog

Mein Bruder verstarb leider mit 17 Jahren und mir kamen Zweifel, ob das Medizinstudium wirklich das Richtige für mich ist. Ich habe dann eine Zeitlang wieder zu Hause gewohnt und bin arbeiten gegangen. Ich merkte bald, dass das nicht der Sinn meines Lebens sein kann und ich nicht im Handel arbeiten möchte. Daneben standen zahlreiche Krankenstände und so wurde ich gekündigt.

2017 kam dann ein entscheidender Wendepunkt, wo ich mich entschied wieder ein Studium aufzunehmen. Ich übersiedelte nach Wien und fühle mich erstmals wie zu Hause. Ich scheine angekommen zu sein.

Ich studiere jetzt Psychologie und möchte dann auch mein Medizinstudium weiterbetreiben.

Meine Intelligenz und insbesondere Selbstreflektiertheit sind meine großen „Ressourcen“, die ich im „Kampf“ gegen diese Erkrankungen besitze.

Natürlich kam es auch in Wien zu weiteren Psychiatrieaufenthalten. Aber ich scheine die richtigen Menschen gefunden zu haben, die mir wirklich helfen können. Eine größere Krise gab es schon länger nicht. Ich lebe mit einer konstanten Medikamenteneinstellung, die nun endlich für mich passt.

Ich konnte mir in einigen Psychotherapiesitzungen klar werden, welche „Trigger“ mich zu krankhaften Verhalten „veranlassen“ und dass so viele Ursachen in meiner Kindheit zu finden sind.

Es wird eine große Aufgabe sein, diese Erlebnisse aufzuarbeiten.

Michaela Fink (34)

Nur noch funktionieren… Familien-Management während der Pandemie

Mein Name ist Oliver, ich bin 43 Jahre alt und arbeite als Lehrer in einer NMS. Dieses Jahr ist für mich und meine Familie alles andere als leicht. Durch die Covid-19 Pandemie und den Lockdown ist unser Leben um einiges stressiger und sorgenerfüllter geworden. 

Mein Vater ist 78 Jahre alt und leidet an Demenz. Durch den Ausbruch der Pandemie haben wie die Pflegeunterstützung verloren und wir kümmern uns jetzt selbst um ihn. 

Papa kann sich zwar grundsätzlich selbst versorgen, aber ich muss jeden Tag zu ihm fahren und ihn mit Hausarbeit, Einkauf, und Organisation der Medikamente unterstützen. Die Autofahrt hin und zurück dauert jeweils eine halbe Stunde. Wir haben ihm angeboten, bei uns einzuziehen, zumindest für die Dauer der Pandemie, aber Papa möchte das nicht. Aufgrund seiner Demenz ist er darauf angewiesen, dass er sich dort, wo er wohnt, auch gut auskennt. Er lebt seit seiner Kindheit in diesem Haus und möchte es unter keinen Umständen verlassen. Das verstehe und respektiere ich auch, trotzdem ist es wirklich schwer zu managen. 

Zwischen Job, meiner Familie und der Pflege meines Vaters bleibt kaum mehr Zeit zum Durchatmen. Auch meine Frau arbeitet Vollzeit im Home-Office und versucht dabei noch unsere Kinder beim Lernen zu unterstützen. Wir haben beide unsere Kapazitäten erreicht und funktionieren nur noch – von Weihnachtsstimmung keine Spur. 

Hinzu kommt die andauernde Sorge, Papa mit Covid anzustecken. Ich weiß nicht, ob er die Krankheit überstehen würde. Meine Familie und ich sind deshalb extrem vorsichtig, um ihn nicht anzustecken. Papa fragt manchmal, warum ihn seine Enkerl oder die Nachbarn nicht mehr besuchen kommen. Mehr als ein paar freundliche Worte über den Zaun sind zur Zeit einfach nicht drin. Ich merke, dass er menschlichen Kontakt vermisst und wirklich traurig darüber ist. Das ist für uns alle belastend.

Ich habe jetzt Hilfsangebote recherchiert, und wenn alles gut läuft, bekommen wir wieder eine Pflegerin zur Verfügung gestellt. Das würde unsere Situation schon mal um einiges erleichtern. Und ab und zu, wenn alles zu viel wird, rufe ich einen Freund an und erzähle ihm, was grade so los ist. Er hört mir dann zu und ich merke, dass es gut tut, einfach alles rauszulassen. 

Ich weiß, dass sich gerade viele Familien in einer ähnlichen Situation befinden. Ich kann nur empfehlen, sich trotz der erschwerten Bedingungen gegenseitig so gut es geht zu unterstützen und nicht zu zögern Hilfsangebote anzunehmen. 

Tränen zu Weihnachten… davor hab ich Angst.

Weihnachten war schon immer schwierig für uns. Oder besser gesagt: Die Zeit vor Weihnachten war schon immer schwer – zumindest seit Klara 4 Jahre alt war und ich nur mehr allein für sie da sein konnte.

Man ist einfach sehr unter Druck, weil das Geld knapp ist, weil der Vergleich mit anderen Familien einfach immer da ist und man Tag für Tag versucht, all das auszugleichen. Ganz nebenbei soll man dann auch noch einen Job machen, der zum Jahresende hin auch immer extrem stressig wird. Die Weihnachtszeit war deshalb immer ein Kraftakt, bis wir dann endlich zu zweit am 24. unter dem Baum sitzen konnten und ich endlich mal Zeit hatte, kurz Luft zu holen.

Ich hab früher immer versucht, in all dem Stress schöne Momente für mich zu finden. Wir sind einmal die Woche durch die Stadt spaziert, um einfach abzuschalten, die Weihnachtsbeleuchtung zu genießen und uns Geschichten zu den Motiven auszudenken. Das waren unsere Highlights – für Klara und für mich. 

Doch heuer … heuer ist einfach alles anders. Es ist noch stressiger, noch mehr Druck, noch weniger Zeit zum Luft holen. Die Geldsorgen sind größer und unsere Spaziergänge fehlen uns Tag für Tag. 

Klara ist im Herbst in die Schule gekommen – das allein war schon ein finanzieller Kraftakt – aber die psychische Belastung durch Covid-19 hat das alles noch einmal um vieles schwerer gemacht. Die Lehrkräfte geben sich wirklich größte Mühe, aber sie sind auch am Limit. Es ist für niemanden leicht, das weiß ich. Aber ich will, dass Menschen wissen, wie sehr wir hier struggeln, wie schwer es gerade ist. 

Das ist Klaras erstes Schuljahr – mit Lockdown, mit wenig bis keinem Kontakt zu ihren neuen KlassenkollegInnen und dann kommt jetzt auch noch eine Vorweihnachtszeit, die von Ungewissheit und Sorgen geprägt ist. Ich versuche stark zu sein und all die Angst um meinem Job, die Existenzängste wegen der Kurzarbeit vor ihr zu verstecken, aber ich weiß das gelingt nicht immer. Sie bekommt all das natürlich mit und das macht mich noch trauriger. Es gab in den letzten Wochen Zeiten, an denen ich fast jeden Tag weinend zu Bett gegangen bin, weil ich nicht mehr weiß was ich machen soll. Oft zittern meine Hände und mein Herz rast. 

Ich habe Angst, dass es so weitergeht oder vielleicht noch schlimmer wird. 
Ich habe Angst, dass meine Mutter krank wird. 
Ich habe Angst, dass Klaras Zukunft gefährdet ist. 
Und so kleinlich das klingen mag: Ich hab‘ Angst, dass es zu Weihnachten Tränen gibt. 

Eine Freundin hat geraten, dass ich mir Hilfe hole und sie mich dabei auch unterstützen kann. Ich bin gerade dabei Hilfsangebote zu recherchieren. Die Sorgenhotline der Stadt Wien hat mir auch schon zweimal sehr gut weitergeholfen, weil es einfach gut tat mal darüber zu sprechen – das Gefühl zu haben, dass ich nicht allein bin und dass jemand zuhört. Deswegen schreibe ich auch diesen Brief. Ich bleibe dran. 

An all diejenigen, die gerade in ähnlichen Situationen sind: Ihr seid nicht allein, es gibt Menschen, die genau gleich fühlen, bangen und kämpfen wie ihr. Und es gibt Menschen, die helfen können. Zögert nicht um Hilfe zu fragen: egal ob es nur ein Gespräch, ein Ratschlag, eine Unterstützung oder professionelle Hilfe ist – um Hilfe zu fragen, ist keine Schande. Bitte tut es.