Ein Brief an die Gesellschaft

Hallo Gesellschaft,

Ich hoffe ihr seid gesund. Wenn ihr ein bisschen Zeit habt, bitte hört mir mal zu.

Dieses Wort “Gesellschaft” ist ein komisches Ding. Man lernt sehr früh in der Schule, dass der Mensch, sowie viele andere Lebewesen, ein Gesellschaftswesen ist, dass die Gesellschaft, die vielen einzelnen Menschen zusammenhält und deren Überleben sichert… es sollte also etwas sehr positives und Wichtiges sein. Wieso hinterlässt dieses Wort dann so einen üblen Nachgeschmack, wieso jagt es einen Schaudern meinen Rücken runter?

Die Gesellschaft ist eine Ordnung oder Struktur, in die sich die Teilnehmer*innen nach einigen festgelegten, und noch viel mehr ungeschriebenen Regeln einfügen. Allen wird ein Wert zugeordnet, es wird beobachtet und geurteilt nach sozialem Geschick, Produktivität, Aussehen. Wer selbstsicher auftritt und spricht, wer viel Energie, Entschlossenheit und Tatkräftigkeit demonstriert, diese Person ist erfolgreich.

Was ist mit mir?

Ich bin autistisch und habe eine Angststörung.
Soziales Geschick habe ich nur sehr wenig. Ich würde zwar gerne kommunizieren und meine Welt mit anderen teilen, jedoch kommt es zu oft zu Missverständnissen, meine Empfindlichkeit auf Sinneseindrücke, meine unkonventionelle Bewegungen und Tonfall oder beschränktes Interessenbereich wird meinen Gesprächspartner lästig.
Produktivität? Manchmal ist es schon ein großer Sieg, dass ich aus meinem Bett gekrochen bin und die Haustiere gefüttert habe. Ich habe schon einige Male versucht, eine Ausbildung oder Studium zu absolvieren oder Arbeit zu verrichten, immer zum selben Ergebnis. Ich stoße auf Aufgaben, Erwartungen und Druck, die für andere als normaler Teil des Lebens gelten, für mich jedoch als unüberwindbare Hürden darstellen. Die Angst nimmt zu, lähmt mich, macht mich physisch krank. Der Auslöser wird verdrängt und mein Gehirn weigert sich, dessen Existenz anzuerkennen. So scheitere ich natürlich an der Aufgabe, erfülle die Erwartung nicht und kriege die angedrohten Konsequenzen.
Es ist geistestötend, dass alle meine Bemühungen, um irgendwie mitzuhalten, letztendlich bestraft werden. Auch wenn ich aufgebe, wird es bestraft mit Drohung von Armut, Hunger, Obdachlosigkeit.
Bin ich denn so viel weniger wertvoll?

„Nein nein, natürlich nicht, und was sagst du denn da überhaupt, deine Probleme sind doch gar nicht ernst. Du siehst echt normal aus, sogar vertrauenserweckend wenn du dich nicht so schlampig kleidest. Du musst dich nur ein bisschen zusammenreißen, dann wirst du sehen, du kannst alles schaffen was du möchtest.“

So oft höre ich diese Antwort. Es sagt mir, es wurde mir erneut nicht zugehört. Es sagt mir, ich bin nicht wertvoll, ich bin nur akzeptabel, wenn meine Schwierigkeiten hinter einem annähernd erwartungsgemäßen Aussehen verdrängt werden können.

Ich kann nicht mehr.
Ich kann nicht mehr verdrängen, ich kann nicht mehr vorgaukeln, dass alles in Ordnung ist.

„Stell dich nicht so an, du lebst doch in einer ziemlich privilegierten Situation, du hast doch bis jetzt keine Anzeichen von Probleme gezeigt, du brauchst keine Hilfe, du würdest nur den Platz von einen schwer kranken Menschen nehmen, du würdest deine Karrierechancen schaden, wenn jemand rausfindet dass du eine Therapie machst.“

Hallo Gesellschaft,

Ich hoffe ihr seid gesund. Wenn ihr ein bisschen Zeit habt, bitte hört mir mal zu.
Das ist mein einziger Wunsch.
Ich bin sicher, ich bin damit nicht alleine.

Es kann so ein großer Unterschied sein, zu hören: Ich verstehe, dass du Angst hast, dass du traurig bist, dass du überlastet bist. Ich finde dich wertvoll. Ich werde dir helfen, oder dich unterstützen, um angemessene Hilfe zu finden.

Das sollte die Funktion der Gesellschaft sein.

M.